Das falsche Urteil - Roman
verlaufen. Das hatte jedenfalls der junge Chirurg mit den Apfelbäckchen begeistert verkündet, als er morgens mit bleichen Würstchenfingern Van Veeterens Bauch abgetastet hatte. Nur sechs bis acht Tage Rekonvaleszenz, danach könnte der Kommissar vitaler denn je zu seiner normalen Routine zurückkehren.
Vital, dachte Van Veeteren. Wie will der denn wissen, ob ich überhaupt Lust dazu habe, vital zu sein?
Er drehte den Kopf und betrachtete die Blumenpracht. Drei Sträuße, nicht mehr und nicht weniger, drängten sich auf dem Nachttisch. Von den Kollegen. Von Renate. Von Jess und Erich. An diesem Nachmittag wollte Jess mit den Zwillingen kommen. Was konnte er sich sonst noch wünschen?
Jetzt hörte er draußen auf dem Gang den Servierwagen. Vermutlich würde es nur eine dünne Diätgeschichte geben, aber das war vielleicht gut so. Vielleicht war er noch nicht reif für die richtig blutigen Steaks.
Er gähnte und ließ seine Gedanken zu Verhaven zurückwandern. Versuchte sich diese kleine verschlafene Stadt zu Beginn der sechziger Jahre vorzustellen.
Was konnte alles mit im Spiel gewesen sein?
Die altbekannten Dinge? Vermutlich.
Dumpfheit. Verdacht. Neid. Böse Zungen.
Ja, so war das wohl, im großen Ganzen.
Und Verhaven war ein Außenseiter.
War ein Sonderling gewesen, und einen Sonderling hatten sie gebraucht. Den idealen Mörder? Ja, so mochte es aussehen.
Wie stand es mit der Beweisführung? Er versuchte sich an die Umstände zu erinnern, aber ihm fiel nur eine Reihe von Fragezeichen ein, weiter kam er nicht.
Hatten sie allen Halbwahrheiten widerstehen können, die sicher zur Sprache gekommen waren? Es hatte eine ziemliche Hetzjagd gegeben, das wusste er noch ... allerlei Behauptungen über Kompetenz von Polizei und Justizwesen. Oder genauer gesagt über deren Inkompetenz. Alle hatten unter Druck gestanden. Wenn sie keinen Mörder fanden, verurteilten sie sich selber.
Wie sah es mit den technischen Beweisen aus? Es war doch ein Indizienprozess gewesen, oder? Er musste sich die Gerichtsprotokolle vornehmen, die Münster gebracht hatte, das stand fest. Wenn er nur zuerst etwas in den Magen bekam. Sicher gab es mehrere schwache Punkte ... er hatte später einmal mit Mort über den Fall gesprochen und deutlich den Eindruck gewonnen, dass dieses Gesprächsthema seinem Vorgänger alles andere als lieb gewesen war.
Über die andere Geschichte, den Marlenemord, wusste er ein wenig mehr, aber hatten nicht auch dabei die Ermittlungen einiges zu wünschen übrig gelassen? Er hatte selber daran teilgenommen, aber doch nur am Rande. War nie bei einer Verhandlung gewesen. Die Verantwortung hatte auch diesmal bei Mort gelegen.
Leopold Verhaven? Natürlich war das ein Kapitel Gerichtsgeschichte, das eine etwas genauere Beschäftigung zu lohnen schien.
Oder war das alles nur Einbildung? Brauchte er einfach ein mehr oder weniger perverses Thema, um seine Gedanken zu beschäftigen, während er platt auf dem Rücken lag und darauf wartete, dass sein Darm brav wieder zusammenwuchs?
Abgeschirmt und isoliert von der Außenwelt, wo niemand etwas anderes von ihm verlangte als Ruhe zu bewahren und sich nicht aufzuregen?
Wirklich eine feine Sache. Ein alter Justizskandal, genau wie in diesem Krimi von Josephine Tey, wie hatte der doch noch geheißen?
Warum war es so schwer, das Gehirn einfach auszuschalten?
Was hatte Pascal noch gesagt? So ungefähr, dass alles Ungemach auf der Welt unserem Unvermögen entspringt, allein in einem Zimmer zu sitzen.
O verdammt, was für ein Wirrwarr, dachte er. Her mit dem Servierwagen, damit ich meine Zähne in eine saftige Spinatsuppe schlagen kann!
20
»Es waren allerlei Geschichten über ihn in Umlauf«, sagte Bernard Moltke und steckte sich noch eine Zigarette an.
»Ach«, sagte deBries. »Was denn für Geschichten?«
»Alle möglichen. Schwer zu sagen, welche vor Beatrice schon da waren und welche nachher dazugekommen sind. Welche authentisch sind, gewissermaßen. Vor allem wurde natürlich geredet, während der Prozess lief ... hier im Ort ist es nie so gesellig zugegangen wie während dieser Monate. Danach wurde alles dann irgendwie still. Als ob alles vorbei wäre... und das war es natürlich auch.«
»Können Sie uns ein Beispiel für eine solche Geschichte geben?«, fragte Moreno. »Am liebsten für eine authentische.«
Bernard Moltke dachte nach.
»Die mit der Katze«, sagte er. »Die habe ich auf jeden Fall schon sehr viel früher gehört. Angeblich hat er mit
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