Das falsche Urteil - Roman
mindestens zwei Jahrzehnte dazugeben musste, um der Wahrheit etwas näher zu kommen.
Vielleicht sorgte auch dieser illusorische Umstand dafür, dass sie sich in dem ziemlich schlecht beleuchteten Büro ausfragen ließ; versunken in einer Ecke eines so langen Sofas, dass sie laut werden mussten, um einander hören zu können.
Diese Jugend, dachte Münster. Schattenwesen.
Es hatte auch seine Zeit gebraucht, sie zu finden. Seit sie irgendwann Ende der siebziger Jahre einige Monate mit Leopold Verhaven zusammen gewesen war, war sie mehr als zehnmal umgezogen. Und außerdem hatte sie ihren Namen geändert.
Das aber nur einmal. Jetzt hieß sie di Gucchi und betrieb seit anderthalb Jahren zusammen mit ihrem uralten korsischen Gatten mitten in Groenstadt eine Boutique für schrille Damenbekleidung.
»Leopold Verhaven?«, fragte sie und schlug ein schwarzes Nylonbein über das andere. »Warum wollen Sie mich über Leopold Verhaven verhören?«
»Das ist kein Verhör«, sagte Münster wie um Entschuldigung bittend. »Ich würde nur gern ein paar Fragen stellen.«
Sie steckte sich eine Zigarette an und strich ihr blutrotes Lederkleid glatt.
»Also los«, sagte sie. »Was möchten Sie wissen?«
Keine Ahnung, dachte Münster. Aber der Kommissar hat mir aufgetragen, dich ausfindig zu machen.
»Erzählen Sie von Ihrer Beziehung zu ihm«, sagte er dann.
Sie ließ den Rauch durch ihre Nasenlöcher entweichen und machte ein gelangweiltes Gesicht. Offenbar hatte sie keine übertrieben positive Einstellung zur Polizei ganz allgemein, und Münster sah ein, dass der Versuch, ihr in dieser Hinsicht eine andere Meinung zu geben, wohl kaum von Erfolg gekrönt sein würde.
»Ich finde es auch nicht besonders toll, solche Dinge aufwühlen zu müssen«, erklärte er. »Können wir es also so schnell wie möglich hinter uns bringen, dann kann ich Sie in Ruhe lassen.«
Das war deutlich genug. Sie nickte und feuchtete sich mit einer übertriebenen und gut geübten Zungenbewegung die Lippen an.
»Na gut. Sie wollen wissen, ob er als Frauenmörder qualifiziert ist. Diese Frage habe ich schon häufiger gehört.«
Münster nickte.
»Das kann ich mir denken.«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Wir waren ja nur einige Monate zusammen. Ich habe ihn zufällig kennen gelernt, als gerade meine zweite Ehe in die Brüche gegangen war. Ich war einfach fertig und brauchte einen Mann, der sich um mich kümmern ... und mich wieder zum Leben erwecken konnte, gewissermaßen.«
»Und konnte er das?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Sind Sie verheiratet, Polizeidirektor?«
»Ja.«
»Ich brauche also kein Blatt vor den Mund zu nehmen?«
»Durchaus nicht«, versicherte Münster.
»Na gut.« Sie zog eine Grimasse, die vielleicht ein Lächeln sein sollte. »Er war ein ziemlich brutaler Liebhaber. Anfangs gefiel mir das ja auch, vermutlich war es gerade das, was ich brauchte, aber auf die Dauer war es doch ziemlich ermüdend. Dieses heftige Gevögel ist nur bei den ersten Malen nett, danach will man doch mehr Ruhe, es soll gefühlvoller und raffinierter zugehen ... na, Sie wissen schon. Natürlich kann ein richtig gewaltsamer Fick eine müde Beziehung wieder aufpeppen, aber so darf es bitte nicht immer zugehen.«
»Ganz recht«, sagte Münster und schluckte. »Aber er hat die ganze Zeit den Zuchtbullen gespielt?«
»Ja«, sagte sie. »Und das war mir zu anstrengend. Also habe ich ihn nach einigen Monaten wieder verlassen. Und er wohnte auch in einem miesen Loch... mitten im Wald und überhaupt. Obwohl ich vielleicht auch das gerade gebraucht hatte... Wald und Natur und überhaupt.«
Ich kann mir dich einfach nicht in einem Hühnerstall vorstellen, dachte Münster und merkte, wie sein einer Mundwinkel zuckte.
»Aber er hat keine direkten Neigungen zur Gewalttätigkeit gezeigt?«
»Nein«, sagte sie energisch. »Er war verschlossen und ziemlich unkultiviert, aber ich habe niemals Angst gehabt oder so.«
»Sie wussten, dass er wegen Mordes verurteilt worden war?«
Sie nickte.
»Das hat er mir nach unserer ersten Nacht erzählt. Und hat seine Unschuld beteuert.«
»Haben Sie ihm geglaubt?«
Sie zögerte. Aber nur eine Sekunde lang.
»Ja«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass Leopold Verhaven eine Frau auf diese Weise umbringen würde. Er war ziemlich
eigen, aber ein Mörder war er nicht. Das habe ich auch beim zweiten Prozess ausgesagt, aber da hat mir natürlich niemand zugehört. Er war schon im Voraus verurteilt.«
Münster
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