Das falsche Urteil - Roman
nickte.
»Und nach dem Ende Ihrer Beziehung hatten Sie keinen Kontakt mehr zu ihm?«
»Nein«, sagte sie. »Aber wer hat ihn nun eigentlich umgebracht? Das wollen Sie doch feststellen, oder?«
»Ja«, erwiderte Münster. »Genau das. Haben Sie irgendeine Vorstellung?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nicht die Geringste«, sagte sie und drückte ihre Zigarette aus. »Sind wir jetzt so weit, Polizeidirektor? Ich muss mich um meinen Laden kümmern.«
»Ja, das sind wir wohl«, sagte Münster und reichte ihr seine Karte. »Melden Sie sich, wenn Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt.«
»Was sollte das denn sein?«, fragte sie.
Keine Ahnung, dachte Münster und erhob sich vom Sofa.
Als er auf den Platz hinaustrat, regnete es. Es war ein dünner, warmer Frühlingsregen, der ihm fast wie ein reinigendes Bad erschien. Und als recht angenehmer Kontrast zu Leonore di Gucchi. Er blieb eine Weile stehen und ließ die weichen Tropfen über sein Gesicht fallen, dann schloss er die Autotür auf und stieg ein.
Zwei Stunden Fahrt lagen vor ihm.
Es war kein sonderlich ertragreicher Nachmittag gewesen, das musste er zugeben. Aber so war es ja meistens. Bei fast jedem Fall. Fragen, Fragen und Fragen. Endlose Mengen von Gesprächen und Interviews und Verhören, allesamt auf den ersten Blick gleichermaßen vergeblich und nichts sagend, bis dann etwas Wichtiges auftauchte. Zumeist dann, wenn man am wenigsten damit gerechnet hatte. Diese kleine Verbindung, diese kurze unerwartete Antwort...
dieses plötzliche, schwach glühende Zeichen in der Dunkelheit, das nicht übersehen werden durfte. Man durfte nicht einfach an diesem Gestrüpp aus belanglosen Details und ermüdenden Kleinigkeiten vorüberjagen.
Er gähnte und fuhr los.
Aber das hier hätte doch wirklich nichts bringen können, dachte er. Abgesehen von einer weiteren kleinen Unterstützung für die Hypothese, dass Verhaven unschuldig gewesen war. Aber das hatten sie doch schon beschlossen. Oder hatten sie das nicht?
Er richtete seine Gedanken lieber auf die Zukunft.
Zwei Tage weiter, genauer gesagt. Denn dann würde Van Veeteren aus dem Krankenhaus entlassen werden, wenn die Ärzte Wort hielten, und obwohl er selber und Rooth von Anfang an den Ehrgeiz gehegt hatten, den Fall selber zu klären, hatten sie diese Hoffnungen inzwischen ja aufgeben müssen. Mehr oder weniger zumindest.
Also können wir auch abwarten und den Kommissar endlich zulangen lassen, dachte Münster. Ab Freitag also. Schwer zu sagen, was das für konkrete Folgen haben würde, aber er hatte ja bereits gewisse Zeichen für Van Veeterens Unruhe entdeckt. Gewisse Beobachtungen, die ihm bei seinem letzten Besuch einfach nicht hatten entgehen können.
Kleinigkeiten zwar, aber wirklich auffällige... diese blödsinnige und aufreizende Rätselhaftigkeit zum Beispiel. Gereiztheit und Empfindlichkeit. Das Grummeln und Murren.
Natürlich waren das die üblichen Signale.
Schwach, wie gesagt, aber deutlich wahrnehmbar für alle, die eine Weile dabei waren.
Der Kommissar hatte die Brutphase erreicht, wie Reinhart einmal gesagt hatte, bei einer Gelegenheit, die nichts mit Verhaven, Hühnerställen und Ähnlichem zu tun gehabt hatte.
Man sollte vielleicht eine Heizlampe auf ihn richten. Münster schmunzelte hinter dem Lenkrad vor sich hin.
Um das Tempo zu steigern. Das hatte doch auch Verhaven gemacht?
Aber vielleicht fährt er auch langsam aus der Haut, weil er eingesperrt ist, dachte Münster dann. Das Krankenhauspersonal hätte auf jeden Fall Elogen verdient – weil sie das durchhalten. Denn sie hatten ihn nicht einfach vor die Tür gesetzt oder in die Wäschekammer gesperrt. Er durfte nicht vergessen, ein Blümchen mitzubringen, wenn er den Kommissar am Freitag abholte. Könnte ja nichts schaden, den guten Ruf der Truppe ein bisschen wiederherzustellen ...
Aber dann stellte er jegliche dienstliche Überlegung ein. Er dachte an Synn und den bevorstehenden Abend, an dem sie ausgehen wollten. Das war doch wirklich eine viel angenehmere Vorstellung.
Theater und ein gutes Essen im La Canaille. Die Großeltern zum Kinderhüten. Danach ihre kleine Wohnung mitten in der Stadt. Doch, im Leben fand man durchaus ab und zu ein Goldstück.
29
Staatsanwalt Kieslings Plädoyer im Mordfall Marlene Nietsch nahm achtzehn dicht beschriebene Seiten ein. Van Veeteren las sämtliche Kopien, seufzte tief und machte sich dann wieder an die Rekonstruktion des Tathergangs – den Versuch, Richter Heidelbluum, den
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