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Das falsche Urteil - Roman

Das falsche Urteil - Roman

Titel: Das falsche Urteil - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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wir an?«, fragte er, als der Kommissar an Ort und Stelle lag.
    »Woher soll ich das wissen?«, fragte Van Veeteren. »Lass mich das Band hören und komm in zwei Stunden zurück, dann erfährst du alles.«
    »Alright«, sagte Münster.
    »Und derweil kannst du feststellen, ob sich diese Person ausfindig machen lässt.«
    Er reichte Münster einen doppelt zusammengefalteten Bogen.
    »Leonore Conchis«, las Münster. »Wer ist das?«
    »Eine Frau, mit der Verhaven in den Siebzigern was hatte.«
    »Lebt sie noch?«, fragte Münster spontan.
    »Darüber sollst du dich ja gerade informieren«, erwiderte der Kommissar.

VII
24. August 1962

27
    Wieder erwacht sie.
    Spürt die Finsternis und seine schwere Nähe wie einen Druck auf der Brust. In einer unterdrückten Bewegung stützt sie sich auf den Ellbogen und versucht, die schwach phosphorisierenden Uhrzeiger zu deuten.
    Halb vier. Oder fast halb vier, so weit sie sehen kann. Die Luft im Schlafzimmer ist stickig, trotz des Belüftungsventils. Sie setzt sich auf. Tastet eine Weile mit den Füßen über den unebenen Boden, dann findet sie ihre Pantoffeln.
    Steht auf und verlässt vorsichtig das Zimmer. Nimmt den dünnen, verschlissenen Frotteemorgenrock von der Wand. Schließt die Tür wieder und legt ein Ohr an das kühle Holz. Noch hier kann sie seinen schweren und bisweilen röchelnden Atem hören.
    Sie fröstelt und streift den Morgenrock über. Und geht langsam die Treppe hinunter.
    Hinunter. Das ist das Schwerste. Die Schmerzen in den Hüften jagen glühende Pfeile aufwärts und abwärts. Das Rückgrat hoch bis in den Nacken, durch die Fußsohlen bis in die Zehen. Es ist seltsam, dass dieser Schmerz so lebendig sein kann.
    Und wird mit jedem Schritt ein wenig stärker.
    Mit jedem Tag. Immer deutlicher. Es wird immer schwerer, nicht die Füße nach innen zu kehren und den Rücken krumm zu machen.

    Immer schwerer zu gehen.
    Am Küchentisch sinkt sie auf einen Stuhl. Legt den Kopf in die Hände und spürt, wie die Schmerzwellen verebben. Lässt sie ganz verklingen, ehe sie ihre Gedanken auf das andere richtet.
    Auf dieses andere.
    Dreimal hat ihr Traum sie in dieser Nacht hochgeschleudert. Dreimal.
    Dieselbe grauenhafte Vorstellung. Dasselbe unwiderstehliche Bild.
    Als er heraufkam und seinen schweren Leib neben ihren wälzte, hat sie sich schlafend gestellt. Er hat sie nicht berührt. Hat nicht einmal eine Hand auf ihre Hüfte oder Schulter gelegt. Das hat sie immerhin erreicht. Er rührt sie nie mehr an, sie weiß, dass sie diesen Sieg auf jeden Fall errungen hat. Hierher ist sie aus eigener Kraft gelangt.
    Geschützt. Ihr Körper ist geschützt. Jetzt und für immer.
    Er wird das andere nie wieder durchmachen müssen.
    Ihre schweigende Übereinkunft liegt zwischen ihnen wie ein dunkles Band, doch erst jetzt kommt ihr eine Ahnung von deren Preis. Von dem Gegengewicht, von diesem Unbegreiflichen, das in der anderen Waagschale liegt.
    Alles kostet etwas, aber eine Wahl hat sie nicht gehabt. In ihrer Entscheidung und ihrem Vorgehen kann keine Schuld liegen – sich noch einmal diesem Mann hinzugeben, auch wenn er ihr Ehemann und der Vater ihres Kindes ist, nein, sie weiß nur zu gut, was das bedeuten würde. Und dann gibt es ja auch noch das Wort des Arztes, es ist nicht nur sie selber... Gesundheit und Verstand könnte es kosten, Vernunft und Gefühl und vielleicht die Bewegungsfähigkeit, die ihr noch geblieben ist. Zumindest, wenn es Frucht tragen sollte. Sie darf kein Kind mehr bekommen. Darf sich dieser Gefahr nicht wieder aussetzen. Die Narbe ihres Lebens sitzt in ihrem Becken, diesem gebrechlichen Mittelpunkt, der seit der entsetzlichen Entbindungsnacht wie
ein Heiligtum geschützt und geschlossen gehalten werden muss.
    Wie ein Heiligtum?
    So denkt sie wirklich, aber kann irgendwer verstehen warum?
    Gott oder ihre Mutter oder irgendeine andere Frau?
    Nein, niemand. In dieser Hinsicht ist sie allein. Eine verbitterte Frau mit Mann und Kind. Und endlich hat auch er gelernt, den Stand der Dinge zu akzeptieren. Er wird nie mehr eingelassen werden, und jetzt haben seine Hände und sein ganzer Körper ihre vergeblichen Bitten und Versuche eingestellt. Endlich hat er resigniert.
    Aber der Preis?
    Vielleicht hat sie schon früh eingesehen, dass es einen Preis geben muss. Aber jetzt? Dass das der Preis ist?
    Es ist eine schreckliche Vorstellung. Und es ist nicht einmal eine Vorstellung, es ist nur ein Traumfragment... ein Bild, das durch ihr Bewusstsein gejagt ist, so

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