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Das falsche Urteil - Roman

Das falsche Urteil - Roman

Titel: Das falsche Urteil - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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rasend schnell und dermaßen unbegreiflich deutlich, dass sie es einfach nicht verstehen konnte.
    Wahrnehmen, ja. Begreifen, nein.
    Gesehen, aber nicht ins Bewusstsein geholt.
    Sie erhebt sich und geht zum Herd. Knipst die Lampe über dem Spülbecken an und lässt Wasser in den Kessel laufen.
    Als das kocht, als sie dasteht und die Blasen anstarrt, die sich losreißen und an die Wasseroberfläche steigen, denkt sie an Andrea.
    An Andrea, die auf der anderen Seite der Wand liegt und ihren sicheren Schlaf schläft. Zwei Jahre alt – zwei Jahre und zwei Monate, wenn man genau sein will, und das will sie in dieser Nacht – liegt sie da unter der gehäkelten Decke der Großmutter und nuckelt im Schlaf an zwei Fingern. Sie braucht nicht nachzusehen, um das zu wissen. Das Bild ihrer Tochter ist überall vorhanden, sie kann es sich jederzeit und ohne die geringste Anstrengung vor Augen rufen.

    Andrea. Das einzige Kind, das sie jemals haben werden. Es ist ein Wunder, dass dieses Kind überhaupt lebt, und alle anderen Rücksichten müssen dafür aufgegeben werden.
    Alle, fragte sie sich, und die Antwort weiß sie bereits. Ja, alle, sagt sie und nimmt den Kessel von der Platte.
     
    Sie nippt am Tee und öffnet die Vorhänge einen Spaltbreit. Ihr Blick begegnet nur ihrem eigenen Gesicht und einem Ausschnitt aus dem Kücheninneren. Sie lässt den Baumwollvorhang wieder sinken.
    Ich wage nicht, zu denken, formuliert sie stumm für sich selber. Nicht, deutlich zu denken. Muss es von mir weghalten. Wenn die Bilder in meinem Kopf auftauchen, muss ich lernen, meine Seele schlafen zu lassen.
    Das muss ich.
    Sie haben sie jetzt gefunden. Das hat die Frau im Laden gesagt, Frau Malinska, und in ihrer düsteren Stimme hatte ein kontrollierter und hysterischer Triumph gelegen.
    Sie haben sie hinten beim Goldemaar im Wald gefunden.
    Tot.
    Erwürgt.
    Nackt.
    Und plötzlich in dieser einsamen Küche, in dieser einsamen Stunde, durchjagt sie eine so heftige Erschütterung, dass sie die Tasse umstößt. Der heiße Tee fließt als kleines Rinnsal über die karierte Wachstuchdecke und auf ihren rechten Oberschenkel, aber es dauert noch Sekunden, bis sie es über sich bringt, diese Flut zu stoppen.
    Es war an diesem Samstag. Vor achtzehn Tagen, oder wie viele das nun sein mögen. Seit damals ist sie verschwunden, diese Schlampe, damals muss es passiert sein.
    Am Nachmittag dieses Samstags. Auch das sieht sie ganz deutlich vor sich. Ich geh ein wenig Holz hacken, hatte er gesagt, und in seiner Stimme und seinem trotzigen Blick hatte
etwas gelegen, das sie kannte und zweifellos verstanden hätte, wenn sie das nur gewollt hätte.
    Aber warum hätte sie das tun sollen? Nur Andrea war wichtig, und auch jetzt geht es nur um Andrea. Warum soll sie unbedingt das begreifen, was sie nicht begreifen will?
    Er kam spät zurück und sie wusste, dass etwas passiert war. Nicht was, nur dass.
    Sah es seinen großen Händen an, die sich immer wieder umeinander schlangen und nicht wussten, wohin mit sich. Sah es im Blut, das schuldbewusst hinter seinen Schläfen pochte. In seinem Blick, der nach Hilfe und Schmerzlinderung rief.
    In der Qual seines ganzen Körpers.
    Sie hatte gesehen, aber nicht geahnt, was sie da sah.
    Und jetzt sitzt sie hier, fährt sich mit der Hand über den Oberschenkel und spürt die Schmerzen zurückkehren. Sie weiß, dass sie es nicht erfahren wird.
    Niemand wird es erfahren. Am allerwenigsten sie. Wieder taucht Andreas Bild vor ihr auf und legt sich wie ein lindernder kühler Balsam über das brennende und schwarze Wissen.
    Engel des Trostes.
    Kind des Vergessens.
    Nichts ist passiert. Es gibt keine Ahnungen.
    Nur dieses eine.
    Sie steht wieder auf. Stapft zum Schrank hinüber und schüttelt vier Tabletten aus dem braunen Glas. Spült sie mit Wasser aus ihrer gekrümmten Hand hinunter.
    Gegen die Schmerzen.
    Gegen die Schlaflosigkeit.
    Gegen Träume und Ahnungen und Wissen.
    Warum, fragt sie sich, als sie sich langsam die Treppe hochschleppt.
    Ich bin so jung. Mein Leben hat doch gerade erst angefangen und schon bin ich an Händen und Füßen gefesselt.

    An diesen Mann.
    An diese Tochter.
    An diesen schmerzenden Leib.
     
    Und für alle Zeit an diese Entscheidung?

VIII
16. – 22. Mai 1994

28
    Aus einiger Entfernung schätzte Münster Leonore Conchis’ Alter auf irgendwo zwischen dreißig und fünfunddreißig.
    Als er näher kam und sie einander über dem rauchfarbenen Glastresen die Hände schüttelten, sah er, dass er noch

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