Das falsche Urteil - Roman
hatte. Auf jeden Fall hatte er das Gefühl, dass Schwester Marianne vermutete, Anna habe Verhaven im Gefängnis besucht ... und in dem Fall war es natürlich möglich, dass sie ihn über ihre Ahnung informieren wollte.
Herrgott, dachte Van Veeteren. Was für eine Deduktion.
In schematischer Form, am Rand der zerknitterten Zeitung, sah seine Gedankenkette fast noch kläglicher aus. Eine Reihe von unbeholfen hingeschmierten Kreisen war durch gebrechliche spinnwebendünne Fäden miteinander verbunden. Pfui Spinne! Handfeste Beweise, hatte Hiller gefordert. Wenn er das hier sähe, würde er meinem Abschiedsgesuch stehenden Fußes nachkommen, dachte Van Veeteren.
Und dennoch, dennoch wusste er, dass es sich genauso verhielt. Dass es so passiert war. Der Mörder war eingekreist. Er kannte jetzt keinen Zweifel mehr. Der Fall war klar.
Plötzlich sah er Leopold Verhaven vor sich. Verhaven als jungen Mann – den erfolgreichen Läufer... rasch, stark und vital, auf dem Weg in die Rekordbücher... mitten in den naiven, optimistischen fünfziger Jahren. Dem Jahrzehnt des Kalten Krieges, aber auch in vielfacher Hinsicht dem der Unschuld. Oder stimmte das nicht?
Und später?
Was war dabei herausgekommen?
Was für ein vollständiger und dauerhafter Schicksalsumschwung!
War Verhavens Schicksal im Grunde nicht von geradezu symbolischer Bedeutung? Was war es für eine bizarre Reihe von über fast das halbe Jahrhundert verstreuten Ereignissen, die zu Verhavens Tod geführt hatten und die er sich hier vor sein inneres Auge zu rufen versuchte... und was für einen Sinn hatte es überhaupt, dass er sich hier mit vergessenen und vergangenen Todesfällen befasste? Mit diesem verbrauchten und gescheiterten Leben?
War das wirklich nur ein selbstverständlicher Teil seiner Arbeit?
Und während er hinaus in die Dämmerung blickte, die sich jetzt über den dunklen Waldrand und den tristen Autobahnabschnitt senkte, überlegte er sich, dass im Grunde
alles schon längst zu Ende sei. Dass er nur der letzte, vergessene Soldat oder Darsteller in einem Schauspiel oder Krieg sei, aus dem alle anderen schon vor Jahren ausgeschieden waren und wo sich niemand mehr auch nur im Geringsten für seine Unternehmungen und Versuche interessierte. Weder die anderen Darsteller noch die Gegner oder das Publikum.
Stellt doch die Ermittlungen ein, dachte er.
Stellt doch Kommissar Van Veeteren ein. Bietet Remis an oder kippt das Brett um. Hört auf mit diesem sinnlosen Getue. Ein Mörder läuft frei herum, lasst ihn doch.
Er bezahlte und ging hinaus zu seinem Wagen. Suchte sich Monteverdi aus dem CD-Gestell, und als die ersten Töne sich aus den Lautsprechern befreiten, wusste er, dass er nicht aufgeben würde. Zumindest noch nicht.
Zum Teufel, murmelte er. Justitia oder Nemesis, was spielt das schon für eine Rolle!
38
»Polizei!«
Er hielt eine halbe Sekunde lang seinen Dienstausweis hoch und stand drei Sekunden später in der Diele.
»Ich möchte Ihnen einige Fragen im Zusammenhang mit den Morden an Leopold Verhaven, Marlene Nietsch und Beatrice Holden stellen. Geht das hier oder sollen wir auf die Wache fahren?«
Der Mann zögerte. Aber nur für einen Moment.
»Bitte sehr.«
Sie gingen ins Wohnzimmer. Münster zog den Block mit den Fragen hervor.
»Könnten Sie uns erzählen, was Sie am 24. August vergangenen Jahres gemacht haben?«
Der Mann zuckte mit den Schultern.
»Machen Sie Witze? Woher soll ich das heute noch wissen?«
»Es wäre besser für Sie, wenn Sie versuchen würden, sich zu erinnern. Sie waren nicht zufällig in Kaustin?«
»Ganz bestimmt nicht.«
»Hatten Sie irgendeinen Grund zu einer feindseligen Einstellung Leopold Verhaven gegenüber?«
»Zu einer feindseligen Einstellung? Natürlich nicht.«
»Er wusste nicht zufällig Dinge, die für Sie gefährlich werden könnten?«
»Was sollten das für Dinge sein?«
»Hielten Sie sich am 11. September 1981 in Maardam auf? An dem Tag, an dem Marlene Nietsch ermordet wurde?«
»Nein. Was soll das eigentlich?«
»Stimmt es nicht, dass Sie sich an diesem Morgen in der Umgebung der Markthalle aufgehalten haben? Zwischen Kreuger Plein und Zwille und überhaupt?«
»Nein.«
»So gegen halb zehn bis zehn?«
»Nein, habe ich doch gesagt.«
»Wie können Sie so sicher sagen, was Sie an einem Tag vor dreizehn Jahren getan oder nicht getan haben?«
Keine Antwort.
»Und Samstag, den 6. April 1962? Da hat doch alles angefangen, oder?«
»Was unterstellen Sie mir da? Darf
Weitere Kostenlose Bücher