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Das falsche Urteil - Roman

Das falsche Urteil - Roman

Titel: Das falsche Urteil - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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andeuten?«

    Schwester Marianne holte tief Atem und setzte sich gerade.
    »Ob Sie nun gläubig sind oder nicht«, sagte sie, »so können Sie mir vielleicht darin zustimmen, dass viele physischen Phänomene auch eine psychische Seite haben. Eine seelische.«
    Sie sprach sehr langsam, als habe sie das schon im Voraus formuliert und wolle sichergehen, dass ihm nichts davon entginge.
    »Könnten Sie ein wenig deutlicher werden«, bat er.
    »Lieber nicht. Es ist auch eine Frage des Vertrauens. Die nie ausgesprochen wurde, die aber dennoch ebenso bindend ist. Ich bin sicher, dass Sie das verstehen.«
    »Ihrer Ansicht nach stehen Sie unter Schweigepflicht?«
    »Gewissermaßen, ja.«
    Er nickte.
    »Aber als die Wunde in der Seele heilte, besserte sich dann auch ihr körperlicher Zustand?«
    »Ja.«
    »Wie sehr? Konnte sie sich fortbewegen... mit einem Gehgerät oder mit Stöcken, zum Beispiel?«
    »Ja.«
    »Ging sie aus?«
    »Ich habe sie jeden Tag im Rollstuhl umhergefahren.«
    »Aber sie war nie allein unterwegs?«
    »Meines Wissens nicht.«
    Er schaute an ihr vorbei aus dem Fenster.
    »Könnten Sie mir sagen, was Sie am 5. Juni 1992 gemacht haben?«, fragte er.
    »Nein.«
    »Wissen Sie, was Anna an diesem Tag vorhatte?«
    Schwester Marianne gab keine Antwort. Sah ihn aus milden braunen Augen an und zeigte keine Spur von Unruhe oder Verlegenheit.
    »Wie weit ist es von hier nach Ulmenthal?«

    »Fünfundzwanzig Kilometer«, diese Antwort kam sofort.
    Er trank den restlichen Tee. Lehnte sich an die Wand und wartete, bis das Schweigen sich über den niedrigen Tisch gesenkt hatte. Seltsam, wie viel Information sich durch Schweigen vermitteln lässt, dachte er. Er hätte jetzt wichtige Fragen stellen können, das wäre die übliche Vorgehensweise gewesen, zweifellos... er hätte keine Antwort erhalten, doch er war daran gewöhnt, die Nuancen der fehlenden Worte zu deuten. Jetzt war alles anders; plötzlich zeigte diese fest stilisierte Situation einen himmelweiten Unterschied zu dem normalen Jargon. Für einen Moment überkam ihn wieder ein Schwindelgefühl. Vielleicht nicht das, das mit der Operation zusammenhing, aber dennoch ein Zeichen von Schwäche, von Erschöpfung, einer Ahnung, dass er kurz davor war, den festen Boden unter den Füßen zu verlieren... oder den Zugriff auf etwas, von dem er allein wusste. Und wo er die volle, unentrinnbare Verantwortung trug.
    »Diese Wunden in der Seele«, sagte er endlich. »Haben Sie irgendeine Vorstellung, woher die stammten?«
    »Das hat sie mir nie erzählt.«
    »Das habe ich schon begriffen.«
    Jetzt lächelte sie wieder ein wenig.
    »Ich kann nicht darauf eingehen, Kommissar. Es gehört mir nicht mehr.«
    Er zögerte einige Sekunden.
    »Glauben Sie an eine himmlische Gerechtigkeit?«, fragte er dann.
    »Auf jeden Fall.«
    »Und an eine irdische?«
    »Auch an die. Es tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann, aber ich glaube, Sie wissen bereits, was Sie wissen müssen. Es kommt mir nicht zu, Vertrauen zu brechen und zu spekulieren. Wenn es ihr Wunsch gewesen wäre, mich über alles zu informieren, dann hätte sie es mir erzählt.
Aber das hat sie nicht getan. Wenn sie gewollt hätte, dass ich es weiterbringe, dann wüsste ich das. Aber so ist es nicht.«
    »Meine Rolle ist die der Nemesis?«
    »Vielleicht. Ihr Beruf ist wohl auch eine Berufung?«
    Er seufzte.
    »Dürfte ich eine persönliche Frage stellen, die nichts mit diesem Fall zu tun hat?«
    »Natürlich. Bitte sehr.«
    »Glauben Sie an einen Gott, der eingreift?«
    Sie faltete die Hände auf ihren Knien.
    »Ja«, sagte sie. »In allerhöchstem Grad.«
    »Und auf welche Weise?«
    »Auf mancherlei Weise. Durch Menschen.«
    »Und Sie glauben, dass er sich sein Werkzeug genau aussucht?«
    »Warum sollte er nicht?«
    »Das war nur so ein Gedanke«, sagte Van Veeteren.
     
    Ahnungen!, dachte er, als er auf der Rückfahrt in der ersten Raststätte saß. Ahnungen und Luft.
    Er seufzte. Staatsanwalt Ferrati würde sich totlachen, wenn er ihm das hier anschleppte.
    Ohne weiter darüber nachzudenken, kritzelte er eine Serie von Ringen an den Rand der Abendzeitung, die vor ihm auf dem Tisch lag. Betrachtete das vage Muster, das vor ihm heranwuchs, und versuchte zugleich, in Gedanken den Zusammenhang zu formulieren:
    Falls Verhaven unschuldig war, dann konnte der wirkliche Mörder der sein, den Van Veeteren in verdacht hatte. Und es wäre nicht unmöglich, dass diese kranke, vor anderthalb Jahren gestorbene Anna das geahnt

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