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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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Geruch, der sich ausbreitet – Raum, der ausgelüftet wird und ihm erlaubt, die Welt durch meine Augen zu sehen und sich über einen Arsch zu ekeln oder eine Titte oder gar über eine »kalte Titte«, Fleisch, das nie die richtige Temperatur oder den richtigen Feuchtigkeitsgrad hat, weil es zu verschwitzt oder zu schlaff oder zu behaart ist, besonders über die Frauen, die diesen traurigen menschlichen Sack bewohnen, der zu zaghaft oder zu schön ist (außer ihren Löchern natürlich), und am Ende die Frage: Mit wem schläfst du, wen küsst du? Leute ohne Poren? Das sage ich ihm in Gedanken. Ich streite mich mit ihm, aber ich kann ihn nicht erschüttern, kann nicht gewinnen, wie ich hier an alten Männern und alten Frauen mit ekzemischen Falten vorbeigehe oder mich über das Geländer beuge und die Seeluft in mich hineinsauge, um den Brechreiz zu unterdrücken, der in mir aufsteigt, wenn ich an das Fleisch meines Bruders denke und daran, wie es in zwei und dann in drei Monaten aussehen wird.
    Ich blicke über das Geländer, als wollte ich die Dichte und Vielfalt der braunen Kiesel unten am Strand untersuchen. Und da ist er: der beißende Geschmack, der Ruf, der Geruch des Meeres. Ein solches Wunder am Ende der Zugstrecke nach Brighton, hinter mir die aufgeschichtete Stadt und dahinter das Gewicht Englands mit seinem Rauch und seinem Licht, denen hier, genau hier, der Weg versperrt wird von dem weiten Geruch des Meeres.
    Die Fähre nach England nahmen wir zum ersten Mal, ich und Liam, nach Abschluss seines zweiten und meines ersten Studienjahres am University College Dublin. Wir fuhren nach London, um dort den Sommer über zu arbeiten. Die ganze Strecke von Holyhead nach Euston saßen wir in der Ziehharmonika zwischen den Eisenbahnwaggons und beobachteten einen Mann – der sich, wie der Zufall es wollte, als unser Postbote entpuppte -, beobachteten ihn dabei, wie er Orangen in eine Flasche mit Wodka aus dem Duty-free-Shop ausdrückte. Den Wodka reichte er einem betrunkenen Mädchen, das er während der Überfahrt kennengelernt hatte, dabei winkte er uns mit der Flasche zu, vielleicht tranken wir auch davon, oder auch nicht, aber was mir gefiel, war die Art, wie er uns zuzwinkerte, bevor er sich wieder dem Mädchen zuwandte – stinkbesoffen war es -, als seien wir alle daran beteiligt, am Geschäft der Verführung, an seinem »Mann! Im Plus!«.
    Liam hat uns keine Hochzeit beschert.
    Die Hegartys lieben Hochzeiten, und bei einigen wenigen von uns haben tatsächlich Hochzeiten stattgefunden, kleine oder große, etliche davon standesamtlich, und im Mittelpunkt dieser schicklichen Angelegenheit standen immer ein rechtschaffener Mann und ein hübsches Mädchen, die unter Beifallsrufen und Geklirr von Sektgläsern auf die netteste Art miteinander vögelten – und das war etwas, das Liam nie gelernt hatte: wie man sich beim Sex ein- und wieder ausklinkt, wie man um ihn herumredet oder ihn einfach hat. Und obwohl er Freundinnen hatte, so sahen wir sie nie, oder wenn doch, dann wollte er nicht, dass wir, die Hegartys, mit ihnen redeten: eine Reihe spindeldürrer, schlaffer Wesen, die seine Hand hielten und uns über seine Schulter hinweg ansahen. Liam mochte nette Frauen. Er mochte Frauen, die freundlich oder sanft waren. Er mochte diese durchscheinenden Mädchen. Und tat recht daran, sie uns nicht vorzuführen, denn die Hegarty-Hyänen, ich und Kitty, fingen an zu grölen And they called it puppy lo-oo-oo-ove , kaum dass sie das Zimmer verlassen hatten.
    Das Komische an jener für uns ersten Reise durch die britische Nacht – runter von der Fähre, fünfzig Schritte auf fremdem Terrain und dann wieder den eisernen Fußboden des Zuges bestiegen – war, einmal abgesehen von dem geilen Postboten, dass wir immer dachten, wir seien schon fast da. Wir schauten aus dem Fenster, und nach einer Zeit tiefsten Dunkels tauchten so viele Lichter auf, dass wir annahmen, dies seien die Lichter Londons. Nur kamen wir nie an. Und wir hatten den Eindruck, als sei England eine einzige Stadt, die ohne Unterlass von einem Ende bis zum anderen reiche. Als wir dann am Morgen endlich, endgültig und unwiderruflich, angekommen waren, standen wir am Eingang zur U-Bahn-Station in Euston und glaubten, ein Zug sei gerade eingefahren und wir könnten uns einen Weg nach unten bahnen, wenn die Menschenmenge sich zerstreut hätte. Nach einer Weile begriffen wir, dass der Massenandrang nicht nachlassen würde und dass es kein besonderer Zug war, der

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