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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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soeben eingefahren war. London befand sich in ständigem Fluss, es hatte keine Ränder, es war immer und überall.
    Liam mochte die Engländer nicht, jedenfalls behauptete er das. Dabei komme ihm, so sagte er, der Umstand zupass, dass die Engländer sich selbst nicht mochten.
    Unser gescheiter Liam.
    Und mir gelingt es gleichfalls nicht, sie zu lieben, diese Herde Lebendvieh auf der Promenade von Brighton, die sich an demselben Meer erfreut, in dem Liam ertrunken ist. Aber es gelingt mir, sie nicht zu hassen, obwohl sie am Leben sind und mein Bruder tot ist. Und ich frage mich, wie ich dem entgangen bin – Liams willkürlichem Hass auf dieses oder jenes. Ein Jahr waren es die Schwulen, im nächsten die Amerikaner.
    Wen sollte ich hassen?
    Wir waren nachts irgendwo schwimmen. Als wir jung waren, gingen wir gern nachts schwimmen. Ich kann mich nicht erinnern, wo das gewesen sein könnte.
    Ich blicke hinaus auf das weite, bewegte Meer, und nur für einen Augenblick denke ich, dass ich, die ich lebendig hier im Sonnenlicht stehe, ein kleineres Leben habe als mein Bruder, der in die Dunkelheit hinausgewatet ist, Blut und Whiskey in salziger See. Der besoffene Liam, den nur seine Haut von seinem sich verzehrenden Ich trennte. Nur für einen Augenblick finde ich es heldenhafter, nicht zu sein.
    Ich betrachte meine Hände auf dem Geländer, und sie sind alt, und meinen durch Geburten mitgenommenen Körper, auf den ich in gewisser Weise stolz war, wegen der neuen Menschen, die ihm entsprungen sind und mit denen ich nur das Grab nähre – nur das Grab nähre! , will ich diesen Fremden, die an mir vorübergehen, ins Gesicht brüllen. Mit Plakat und Megafon will ich dazu aufrufen, Schluss mit der Fortpflanzung zu machen – nicht, dass es, wie ich jetzt bemerke, auf diesem Spielplatz, dem Strand von Brighton, viele Kinder gibt, zumindest nicht an diesem Dienstagnachmittag. England, das Land der Erwachsenen.
    Aber eigentlich stören mich diese Leute nicht, so oder so nicht, und ich liebe den Bestattungsunternehmer. Meinen Katalogkameraden, meinen englischen Jungen. Die modische Sorglosigkeit, die er an den Tag legt, hat fast schon etwas Spirituelles. Ich frage mich, zu wem er wohl nach Hause geht – zu Freunden, die er mag, oder zu Eltern, die er mag – und wie es wohl wäre, mit einem solchen Typen zu schlafen. Ist er launenhaft?
    Als ich mit ihm alles abgesprochen und seine harmlose Hand in meiner (alten) Hand gespürt habe, bleibe ich vor seinem Bestattungsunternehmen auf dem Bürgersteig stehen und klappe mein Handy auf, um meinen schwierigen mittelalten Mann anzurufen, während ich mich in Wahrheit am liebsten hinlegen würde, genau hier, auf der Türschwelle des Jungen, bis er über meinen bäuchlings hingestreckten Körper hinwegtritt und mich hochhebt.
    Azrael.
    »Wie sieht’s aus?«, frage ich Tom, und er sagt mir, dass die Mädchen nach der Schule zu Freundinnen nach Hause gehen würden und alles in Ordnung sei. Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, wo er ist.
    »Arbeitest du?«
    »Natürlich arbeite ich.«
    »Rebecca hat ihren Volkstanzkurs«, sage ich.
    »Nein, heute nicht.«
    »Aber sie hat ihren Auftritt.« Ich wimmere es auf die Straße hinaus und kann’s doch nicht glauben. Denn was Tom sagt (und zwar ganz zu Recht), bedeutet doch, dass meine Sorgen nicht wichtig sind, sie sind erfunden, sie sind etwas, das mich auf Trab hält, während er den ernsten Dingen nachgeht, wie Geld verdienen und richtig lebendig zu sein.
    »Wo bist du?«, frage ich.
    »Ich hab’s dir doch gesagt, bei der Arbeit.«
    »Wo bei der Arbeit? Wo bist du bei der Arbeit ?«
    Er kann nicht einfach auflegen, denn ich bin in Brighton und trage Leid. Es entsteht eine lange Pause.
    »Komm nach Hause«, sagt er. »Wann wirst du zu Hause sein?«
    »Was bedeutet dir das schon?«
    »Alles«, sagt er. »Was glaubst du denn?«
    Und jetzt ist es an mir, das Gespräch zu beenden und mein Handy zuzuklappen.
    Hinter mir in der offenen Tür steht mein junger Bestattungsunternehmer und sagt: »Möchten Sie vielleicht noch einen Kaffee? Kann ich jemanden für Sie anrufen?«
    Er hat seinen Ohrring wieder eingesetzt, einen einfachen kleinen Ohrring aus Gold.
    »Schon in Ordnung«, sage ich. »So ist’s nun mal.«
     
    Zum ersten Mal verliebt, das wird mir allmählich klar, habe ich mich, als ich Anfang zwanzig war, einen Typen aus Brooklyn namens Michael Weiss kennenlernte und mit ihm schlief. Er war in Dublin, um einen Magister in Hibernistik oder

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