Das Familientreffen
dauern wird, ehe sie sich an Liams armem Leichnam sättigen können.
Dies erfahre ich von einem Bestattungsunternehmer, der aussieht, als wäre er um die neunzehn. Im Korridor des Leichenschauhauses von Brighton and Hove fasste er mich am Arm und schaffte mich irgendwie fort, in einem Auto oder in einem Taxi – ob ich vorn oder hinten saß, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß, dass ich mich hieran erinnern werde: an das Hinterzimmer des Bestattungsunternehmens, vorstadtmäßig und pastellfarben eingerichtet, mit einem Schreibtisch, auf jeder Seite ein Stuhl, und einem kunststoffkaschierten Sargkatalog auf einem Drehständer, Särge aller Art außer dem Pappsarg der Ökokrieger, nach dem ich mich zur Ablenkung erkundige.
»Fand er die etwa gut?«, fragt der schwarz gekleidete Junge.
»Nicht so richtig. Ein bisschen.«
Ich weiß genau, was ich will, habe es schon die ganze Zeit gewusst, aber es macht sich nicht gut, voreilig zu wirken, und so blättere ich die Seiten mit dem scheußlichen Seidenfutter, dem Rüschenbesatz und dem Flammengarn durch, die so aussehen, als würde man in einem Kinovorhang beigesetzt, genau in dem Moment, da der Projektor anspringt und Looney Tunes auf der Leinwand erscheint. Einiges davon sage ich laut, und mein Bestattungsunternehmer hört es sich an und lässt mir Zeit.
Sein Mund ist von solidem Purpurrot, das grell gegen seine weiße Haut absticht. Im Ohrläppchen hat er ein winziges, feuchtes Loch, in dem sein Ohrring sitzen sollte, aber nicht sitzt, solange er mit Hinterbliebenen spricht.
»Keine Eile«, sagt er.
Ich liebe diesen Bestattungsunternehmer. Er hat diese gewisse Art, in der sich junge Leute heute geben, eine Art, die zu meiner Zeit noch nicht üblich war. Er verstellt sich nicht. Er urteilt nicht. Er redet über die Särge auf eine Was-immer-Sie-sagen-Art, als handle es sich um einen Einkauf wie alle anderen auch – die eigentlichen Fragen werden anderswo gestellt.
»Der hier also«, sagt er, als ich mit dem Finger auf einen schlichten Sarg aus gekalkter Eiche zeige, und ich denke, dass eine meiner Töchter vielleicht jemanden wie ihn heiraten wird, jemanden, der unbefangen mit einer Frau in einem Raum sitzen kann.
»Ich kann ihn nicht mit ins Flugzeug nehmen«, sage ich. »Es ist einfach zu...«
»›Fluggäste, die Beistand benötigen, werden gebeten, sich zur Spitze der Schlange zu begeben.‹«
Und ich muss lachen. Was immer er damit meint.
»Wirklich, im Frachtraum geht das schon«, sagt er.
Er sieht nicht gerade gut aus. Sein Mund ist wie zermatscht, die Lippen sind zu voll, er selbst zu weich und ungeformt. Aber sonst ist an ihm nichts auszusetzen. Ich betrachte seine Hände, es gibt nichts, was mich anekeln würde, und wenn er flackernd die Augen schließt, um mir den Unterschied zwischen poliertem Stahl und Chrom zu erklären, weisen seine Lider ein zartes Muster mittelaltriger Adern auf. Seine Kleidung lässt seinen Körper nicht lächerlich erscheinen. Man könnte ihn aus den Kleidern schälen, und er bliebe sich treu.
Ich muss ihn noch einmal nach seinem Namen fragen. (Azrael.)
Als ich neben Liams Leichnam stand, hatte er meinen Arm berührt und mich dann fortgeführt. Er ist derjenige, der kommt, wenn man das Schlimmste gesehen hat. Er ist der Rest meines Lebens.
Nachdem ich am Bahnhof von Brighton angekommen war, lief ich eine Zeit lang umher und dachte, dass ich die ganze Angelegenheit so nachspielen sollte, wie sie sich ereignet hatte – dass ich an der Stelle anfangen sollte, wo Liam ins Meer gegangen war -, denn diese Dinge folgen einer ganz eigenen Logik, die es zu respektieren gilt. Zur Mittagszeit spaziere ich also die Strandpromenade entlang, Liam ist – noch eben so – am Leben, und ich male mir die Stelle bei Dunkelheit aus: wie das schwarze Salzwasser meine Hüften umspült. Liam liegt in der Luft. Die Gestalten, die vorübergehen, sind mit den Graffiti seines Blicks beschrieben: Alles, was sie haben, schwabbelt oder hängt herab. Ein übergewichtiges Kind mit Brüsten – ein Junge, wie mir scheint. Ein alter Mann mit Schorf unter der Nase. Eine Frau mit einer ausgeleierten Tätowierung. Ein Vorbeimarsch offener Hosenschlitze, fleckiger Hosen und breiter BH-Träger, die unter anderen, schnürsenkeldünnen Trägern hervorschauen. Die Lebenden, mit all ihren Gerüchen und Körperöffnungen. Liam interessierte sich immer für die Löcher der Leute, wer was in welches Loch steckte.
Er nimmt wieder Raum in meinem Kopf ein, wie ein
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