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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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unabweisbar das Grauen, sodass ich schreien könnte. Was ist? Er schläft mit einer anderen . Nein, das ist nicht der Weckruf um vier Uhr morgens. Der Weckruf um vier Uhr morgens ist viel älteren Datums und grässlicher.
    Ich kann das Gewicht meines Körpers auf dem Bett nicht spüren. Ich kann die Grenze nicht spüren, wo meine Haut das Laken berührt. Ich schwenke meinen Körper ein paar Zentimeter von der Matratze, und ich glaube nicht mehr an mich – an die Art und Weise, wie ich atme oder mich umdrehe -, nicht mehr an Tom neben mir: dass er am Leben ist (manchmal erwache ich, finde einen Toten und erwache abermals). Oder dass er mich liebt. Oder dass irgendwelche unserer Erinnerungen geteilte Erinnerungen sind. Und so liegt er da, abgesondert, während ich den Glauben verliere. Er schläft auf dem Rücken. Und eines Morgens um – ja – um vier Uhr wache ich auf und entdecke eine bläuliche Schwellung an seinem hingestreckten Körper, ein der Verwesung nahes violettes Ding. Tom liegt hingebettet auf dem Rücken und schläft wie ein toter Heiliger oder wie ein Kind. Jedenfalls liegt er in schönstem Schlaf, die Handflächen zu beiden Seiten locker und dem Himmel zugewandt, in den Augenwinkeln ein angespanntes Lächeln, so als sei das, was er in der Mitte seiner blinden Stirn sieht, überzeugend und flüchtig und lieblich. Ich beobachte ihn eine Weile – wie albern, was für ein alberner Einfall, mit dem ich da aufgewacht bin -, aber ich kann nicht nachprüfen, ob es wahr ist, dieses Ding, das ich dem Körper meines schlafenden Mannes angeträumt habe, ein Schwanz, der so violett und steif ist, dass er ihm zur Last fällt. Er liegt da und drückt seinen Rücken in die Matratze, nur um es zu stützen, dieses unerträgliche Ding, das an ihm festsitzt und sich von ihm fortbewegt, während er unter ihm schläft. Hilflos. Und voll angenehmer Gedanken.
    Und ich drehe mich um und ziehe die Bettdecke fester um mich, während das Ding, das mein Mann im Schlaf fickt, sich langsam zurückzieht. Ein Ding, das ich sein könnte.
    Oder auch nicht. Es könnte Marilyn Monroe sein – tot oder lebendig. Es könnte eine glitschige Plastikpuppe sein oder eine Frau, die er von der Arbeit kennt. Oder es könnte ein Kind sein – seine eigene Tochter, warum nicht? Es gibt Männer, die schrecken im Schlaf vor nichts zurück, und ich bin mir nicht sicher, was sie davon abhält, wenn sie erwachen. Ich weiß nicht, wo sie einen Trennstrich ziehen.

21
    Hier ist noch eine Szene. Sie trägt sich in Adas Haus in Broadstone zu, aber viel später. Jahre später. Es ist eine Szene, in der Ada Nugent trösten möchte, weil Nugents Leben nicht eben gut verläuft. Es geht ihm sehr schlecht, und obwohl kein Wort darüber verloren wird, hat Ada es an dem Geruch erkannt, der ihn umhüllt, und an der Art, wie seine Schultern straff bleiben, während der Rest seines Körpers ab- und wegsackt. Sie weiß, Altwerden, mit all seinen Enttäuschungen, passt nicht zu Nugent.
    Sie ist sich nicht sicher, ob es zu ihr passt.
    Als sie ihm Tee anbietet, geschieht es mit einem überraschenden Zittern der Untertasse. Ruhig nimmt er die Tasse entgegen und stellt sie ab. Unter den gegebenen Umständen sind die Kekse etwas zu auffällig, geradezu abwegig mit den weißen Kokosflocken auf rosa Marshmallows. Ada weiß, dass er traurig ist, aber noch kann sie kein Mitgefühl aufbringen. Lamb Nugent hat eine Frau, Kathleen, und vier gesunde Kinder. Er hat keinen Grund zur Klage. Er bittet Ada um etwas, das sie ihm hartnäckig verweigert, er bittet sie darum, an seinen Kummer zu glauben, an den gewöhnlichen Kummer eines Mannes mit einer Frau, die er nicht allzu sehr liebt, und mit vier Kindern, die er nicht einmal ansatzweise versteht – der übliche Kummer von Männern, wenn sie erkennen müssen, dass sie nichts erreicht haben und dass es für sie nichts mehr zu erreichen gibt. Er will, dass sie ihn wegen seines gänzlich angenehmen Lebens bedauert und wegen der Tatsache, dass es nicht ihm gehört. Wegen der Tatsache, dass er in den eigenen vier Wänden ein Gespenst ist, dass seine Frau ihn auf die Palme bringt, wenn er sie ansieht, und dass seine vier Kinder ihm jeden Atemzug rauben, der seinem Mund entweicht. Während er hier bei einer Frau sitzt, die zu alt ist, um mit ihr ins Bett zu gehen, der Hüterin all seiner Schätze, der Frau, die sich weigert, ihn zu lieben, obwohl sie weiß, dass sie es eigentlich sollte.
    Und wo ist Charlie bei alldem? Der ist fort, denn

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