Das Familientreffen
könne, mich zu haben. Ich würde in ihre Klasse kommen, sagte sie mir, und eine von Gottes kleinen Soldatinnen werden – und genau so ist mir mein Aufenthalt bei Benedict auch erinnerlich: eine Zeit des Marschierens, alle unsere Bänke in einer Reihe und Jesus in unserem Herzen, Maria schaute uns über die eine Schulter, unser Schutzengel über die andere, Gott sah von oben auf uns hernieder, und der Heilige Geist senkte sich im Sturzflug auf unseren Scheitel herab und explodierte dort in harmlosen Flämmchen. Und nirgendwo gab es einen Platz für den Teufel, der ein dunkler Schatten über der linken Schulter war und unsichtbar, selbst wenn man das Auge verdrehte.
Das Beste an Benedict war ihr Name. Sie habe ihn selbst ausgesucht, sagte sie, nach einem Mönch, der in der Wüste von einem Raben ernährt worden war, denn als sie klein war, sei das Brot immer von grauem Schimmel und Käfern befallen gewesen. Die Schule war nach Dympna benannt, einer altirischen Prinzessin, die sich geweigert hatte, ihren Vater zu ehelichen. Nachdem ihre Mutter, die Königin, gestorben war, hatte Dympnas Vater das gesamte Königreich abgesucht, aber keine Braut finden können. Dann fiel sein Blick auf seine Tochter. Mit ihrem Beichtvater floh Dympna nach Belgien, wo ihr Vater, der König, sie einholte und ihr den Kopf abschlug. Was für eine fantastische Geschichte. St. Dympna ist die Schutzheilige der Geistesgestörten, sagte Schwester Benedict, denn ihr Vater war geistesgestört, weil er sie heiraten wollte. Natürlich.
Mein eigener Name, Veronica – den ich immer ziemlich hässlich fand, hörte er sich doch an wie eine Salbe oder eine Krankheit -, war einer ihrer Lieblingsnamen. Die heilige Veronika hatte Christus auf dem Weg zum Kalvarienberg das Gesicht abgewischt, und auf ihrem Geschirrtuch hatte Er Sein Gesicht hinterlassen. Beziehungsweise den Abdruck Seines Gesichts. Das sei das erste Foto überhaupt gewesen, sagte sie.
Mit der Zeit mochte ich Veronika ziemlich gern – eine Gestalt, die sich aus der Menge herausbeugt, gleichermaßen flehend wie zärtlich. Noch heute muss ich immer, wenn in chinesischen Restaurants oder in den Maschinen altmodischer Fluglinien feuchte heiße Tücher gereicht werden, an sie denken. Die Kunst, öffentlich Zärtlichkeit zu bezeigen, jene kleinen Gesten des Wischens und Waschens, haben wir eingebüßt; wir haben vergessen, wie sehr der Körper eine förmliche Berührung willkommen heißt. Ich wusste, dass mein Schicksal auf irgendeine Weise mit dem der heiligen Veronika verschränkt sein musste. Vielleicht würde ich Fotografin werden. Vielleicht würde ein Moment kommen, da ich aus der Menge hervortreten und wieder mit ihr verschmelzen würde – nichts weiter. Ich dachte, wenn ich erwachsen wäre, könnte ich jemand werden, der Dinge abwischt: Blut, Tränen, all das.
Ich verwechselte Veronika mit der blutflüssigen Frau aus dem Evangelium, von der Christus sagte: »Es hat mich jemand angerührt«, und ich verwechselte sie mit der Frau, zu der er sprach: » Noli me tangere «, was aber erst nach der Auferstehung geschah. »Rühre mich nicht an!«
Warum nicht?
Warum durfte sie Ihn nicht berühren? Thomas berührte Ihn doch auch, Thomas war aufgefordert worden, seine Hände in Seine Wunden zu legen. Diese Dinge waren mir im Alter von acht Jahren sehr wichtig.
Eine Zeit lang übte ich mithilfe meiner eigenen Wunden und Narben und war jedes Mal überwältigt von dem leuchtenden Rot auf dem weißen Toilettenpapier, das ich anstelle von Adas Geschirrtüchern benutzte. Kinder begreifen Schmerz nicht, sie experimentieren damit, doch man könnte fast sagen, dass sie ihn nicht empfinden oder nicht wissen, wie sie ihn empfinden sollen, bis sie erwachsen sind. Und selbst dann empfinden wir anscheinend aus dem falschen Grund Schmerz. Zumindest war es bei mir so.
Ich bin nicht Veronika. Auch wenn ich zu meiner Zeit meinen Beitrag zum Wischen geleistet habe und es zutrifft, dass ich mich von Menschen angezogen fühle, die leiden, oder vielmehr von Männern, die leiden, meinem leidenden Mann, meinem leidenden Bruder, der leidenden Gestalt Mr Nugents. Unseligerweise übt Glücksfähigkeit in einem Mann keine Anziehungskraft auf mich aus.
Ich erinnere mich an einen trägen Nachmittag, an dem ich mich mithilfe von Adas Nähkörbchen an Akupunktur versuchte. Ich erprobte die Länge der Nadeln an meinem Oberschenkel: Durch Fett und Fleisch drangen sie bis zum Knorpel oder Knochen ein – vielleicht war da
Weitere Kostenlose Bücher