Das Familientreffen
auch eine Sehne. Ich kann kein Interesse dafür aufbringen, was wo sitzt, kein Interesse für Ärzte, Körperteile oder Knorpel – man gebe mir eine Vollnarkose, sage ich, und man gebe sie mir jetzt, bevor etwas schiefgeht, und ich erinnere mich auch an eine Nacht mit Michael Weiss, wie ich an der Innenseite meines Schenkels herumhackte, ausgerechnet mit einem Kugelschreiber, und wie ich später mit seinem Küchenmesser an den kraftlosen blauen Linien entlangritzte. Und ich erinnere mich an die Kühle des Schnitts.
Und nach einer Weile.
Nach einer Weile sickerte die ferne Welt zurück, bildete an den Schnittkanten dicke rote Perlen, stieg auf, um in die klaffende Wunde zu strömen, und trat dann langsam, in einem einzigen prallen, köstlichen Tropfen, über den fleischigen Rand. Die ganze Welt kehrte blutend zurück, eine Welt, die zunächst aus Michael Weiss bestand oder doch aus seiner Stimme, die sprach: »Würdest du bitte, würdest du bitte endlich mit diesem Scheiß aufhören!«
Solch ein Ekelgefühl. Solch ein vollkommenes, vollendetes Ekelgefühl. »Bist du jetzt zufrieden?« Der gute, sanfte, humane Michael Weiss.
Hafermehl, Creme, Sandstein, Schiefer.
Hier gibt es kein Blut. In diesem Haus gibt es kein Blut. Aber einen Rest Interesse habe ich mir bewahrt, könnte man sagen. Einen Rest Interesse an dem blutenden Antlitz Christi und an der Frau, die das Blut abwischte und mit ihm einen Teil des Schmerzes, einer Frau, die es einmal gegeben haben mag, die aber gewiss nicht Veronika hieß.
Heute gehe ich nicht mehr zur Messe und habe wenig davon an meine Kinder weitergegeben, obwohl Rebecca, die jetzt acht ist, eine Phase der Frömmigkeit durchlebt, vermutlich, um mir zuwiderzuhandeln. Sie sind erstaunlich erwachsen – Achtjährige. Wirklichen Menschen erstaunlich ähnlich. Natürlich, für einen selbst sind die eigenen Kinder immer wirkliche Menschen, von Anfang an und in Gänze, doch selbst die Kinder von Fremden sehen mit acht Jahren wie richtige Menschen aus, und meine Achtjährige, als habe sie dies erfasst, hat ihr neues, voll ausgebildetes Menschengesicht Gott zugewandt.
Liam mochte die heilige Katharina von Siena, die Wundenleckerin. Er mochte auch drei römische Heilige mit merkwürdigen Namen, die mit dem Kopf nach unten gekreuzigt worden waren und denen man Milch und Senf in die Nase gegossen hatte, was offenbar ihren Tod herbeiführte. Kitty störte das nicht weiter, wie ich mich erinnere.
20
Während ich dies niederschreibe, sehe ich aus dem Fenster und halte Rücksprache mit der Leiche, die am Eingangstor in meinem Saab sitzt. Er (es ist immer ein Er) sitzt fortwährend da, eine zusammengesackte Gestalt auf dem Vordersitz, die sich bei näherer Untersuchung als die schräg gestellte Nackenstütze entpuppt. Doch obwohl ich das weiß, fühle ich mich von dem ausgestopften, ausdruckslosen Gesicht angezogen und frage mich, warum Er so geduldig ist. Er lässt seinen Blick unverwandt auf dem Armaturenbrett ruhen, wie ein Mann, der Radio hört und nicht ins Haus kommen wird. Ein Symbol für die Einsamkeit der Männer und deren Verstocktheit. Er wird nicht ins Haus kommen, meine Autoleiche, meine Unfalltestpuppe auf dem Vordersitz. Er wartet auf die letzten Fußballergebnisse.
Eigentlich will ich ihn gar nicht im Haus haben, aber das bedeutet nicht, dass ich froh bin, ihn dauernd in meinem Auto sitzen zu sehen, diesen Mann, der ziemlich derb von Geduld und Durchhaltevermögen spricht. Und von der Möglichkeit, dass Menschen sich nicht füreinander interessieren – jedenfalls nicht wirklich -, dass das Wichtigste in ihrem Leben Sport ist.
Ich kann mit ihm aufbleiben, oder ich kann nach oben gehen und mit meinem Mann schlafen.
Eine ganze Nacht ist eine sehr lange Zeit.
Ich bin völlig zerschlagen. Es begann irgendwann nach der Beerdigung, als Tom versuchte, mich von den Toten aufzuerwecken, indem er sich der Länge nach auf mich legte und mich küsste und rubbelte und alles Übrige. Aber darüber war ich hinweg – ich hatte es vergessen. Ich war wieder mit Schulfahrten befasst, mit Staubsaugen und mit Anrufen bei anderen Müttern wegen Dingen wie Verabredungen zum Spielen und wo man Rebecca Schuhe für den irischen Volkstanz kaufen konnte. Alles war traurig, aber völlig in Ordnung – gutes Essen, frische Luft, ein paar Gläser Wein zu viel und ab ins Bett. Und dann.
Hier kommt er – der Weckruf um vier Uhr morgens. Er kriecht in mich hinein, und als ich aufwache, packt mich langsam,
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