Das Familientreffen
gevögelt worden waren oder die mit Sperma in den Haaren aufwachten – und he! Liam!, du unterhältst uns alle so prächtig, großartig, dich hier zu haben.
Wenn er nüchtern war, verpasste er Busse, verpasste Anschlüsse und verlor oder stahl Dinge. Obwohl Liam nicht wirklich stahl – für ihn war es ein intellektuelles Problem: Er kapierte einfach nicht, warum jemand anderes etwas hatte und er nicht, und für ihn bestand die einzige Lösung darin, es an sich zu nehmen und damit zu verschwinden, wie unnütz es auch sein mochte. Zuweilen Geld, ganz sicher von mir und wahrscheinlich von Kitty, wenngleich wir beide nie darüber sprachen, aber auch Ausgefalleneres. 1989 montierte er das Telefon an der Wand meiner Küche ab, obwohl – oder möglicherweise weil – ich die Wohnung damals nur gemietet hatte. Dabei, und das ist das Dümmste daran, konnten irische Apparate in die Leitungen der British Telecom gar nicht eingestöpselt werden. Liam »kannte jemanden«, natürlich, der einen Apparat umbauen konnte, und so lag das Scheißding mit heraushängenden Drähten Gott weiß wie lange in seiner Bude herum. Ich weiß lediglich, dass, wenn ich in den sechs darauffolgenden Monaten bei ihm anrief, niemand den Hörer abnahm, sei es ein irischer, ein britischer oder sonst irgendein Hörer. Ich weiß auch, dass er ihn deshalb mitgehen ließ, weil er ahnte, dass er für eine Weile verschwinden würde, und weil er, wenn es so weit war, etwas von mir bei sich haben wollte. Er wollte die Verbindung aufrechterhalten.
So habe ich ihn also verlassen und er mich. Was sonst sollen Geschwister tun? Das allererste Mal war, als wir in die St. Dympna’s School in Broadstone gingen. Er verschwand durch die eine Tür und ich durch eine andere, und obwohl wir nachts noch immer in demselben Bett schliefen, war er tagsüber ein Junge und ich ein Mädchen, und er konnte sich unter keinen Umständen dabei blicken lassen, wie er auf dem Schulhof mit mir sprach. Wessen Schuld war das?
Das war 1967, in dem Jahr, als ich größer wurde als Liam, und das bin ich seitdem immer noch. Außer dem aufregenden Abenteuer im Busbahnhof ist in Broadstone nicht viel passiert. Wir drei lungerten auf den Straßen herum, zwei kleine Kinder mit rabenschwarzen Haaren und eisblauen Augen, und das schlaksige Kind mit den sandfarbenen Haaren, das war ich. Es war das Jahr, in dem ich mit meinen Haaren unzufrieden wurde, weil sie so strähnig und ungewaschen waren. Es gab noch andere Anzeichen der Pubertät. Im Obergeschoss steckte ich das Gesicht ins Waschbecken, um herauszufinden, wie es sich anfühlte, wenn man sich das Leben nahm, oder ich nähte meine Fingerspitzen mit einer von Adas Nadeln zusammen, während Liam mit ihren Zigaretten spielte. Obwohl ich glaube, dass all das später passiert ist, in jenem überraschenden Frühling, als wir noch immer nicht nach Hause gefahren waren.
Wir hatten nur die Sommerferien über bleiben sollen. An einem Tag war die Straße voller Kinder, und am nächsten Tag waren sie alle wie vom Erdboden verschluckt, und uns – mir, Liam und Kitty – wurde klar, dass die Schule ohne uns angefangen hatte. Wir waren zurückgelassen worden. In den Straßen kamen wir an Häusern vorbei, die die Stille vertraut erscheinen ließ. Wir hatten den Eindruck, als könnten wir jedes von ihnen betreten. Aber wir zogen es vor, zum Haus unserer Granny zurückzugehen und eine Weile zu warten.
Ab und zu wurde darüber gesprochen, was man mit uns anstellen sollte. Ada erwähnte es auf der Türschwelle einer Nachbarin gegenüber: »Kennen Sie jemanden in St. Dympna’s?« Am Ende zockelten Kitty und ich hinter Ada her, zu der Nonne, die uns einen Platz besorgen würde, Schwester Benedict, einer schwarzäugigen, leidenschaftlichen Frau, die uns heftig abküsste und unsere kindlichen Wangen eine nach der anderen an ihren Busen drückte, uns streichelte und mit Ada redete, während wir auf das Gebrumm ihrer Stimme und ihren erstaunlichen Herzschlag lauschten.
Wenn ich an ihr hinabsah, war ich wie gebannt von ihrem Rosenkranz, der bis auf den Boden hing, und von der großen Freimütigkeit ihrer Zehen, die sich unter ihrer Tracht aus mönchischen Sandalen spreizten.
Sie schob mich zurück, kniete vor mir nieder und nahm meinen Kopf in ihre großen Hände. Tatsächlich legte sie sie über meine Ohren, sodass ich sie im Resonanzraum ihres Körpers sagen hörte, was für ein hübsches Mädchen ich sei und wie überaus glücklich sich die Schule schätzen
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