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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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Gefühl, an allem schuld zu sein.
    Ich sage, ich habe mit »Männern« geschlafen, aber wissen Sie, das ist eine Übertreibung, denn eigentlich meine ich damit nur, dass es manchmal, wenn ich mit Tom schlafe, so ist: Wenn er sich zurückzieht, sehnt er sich, und wenn er zustößt, hasst er mich und fragt: »Was guckst du mich so an?« Oder beim Abendessen mit Freunden macht er eine unheimlich sarkastische Bemerkung über das Kommen oder darüber, dass ich nicht komme, obwohl ich, wissen Sie, durchaus komme – zumindest bilde ich es mir ein -, und dann, später, begreife ich, was er will, was mein Mann schon immer gewollt hat und was ich ihm nicht gestatten werde: meine Vernichtung. Darauf richtet sich sein ganzes Verlangen. Es grenzt an Hass. Ist manchmal Hass.
    »Was habe ich dir je getan?«, schreie ich. »Außer dich zu lieben? Was habe ich dir je getan?« Eine Frage, die er ausgesprochen dumm findet.
    Ich weiß, dass nicht alle Männer so sind. Irgendwo dort draußen begleiten hunderttausend Exemplare von Michael Weiss ihre Söhne und Töchter zum Saxofonunterricht oder zur Klavierstunde, leben ihr Leben in einem sanften amerikanischen Kinofilm, in dem Männer Männer sind und ihre Herzen unbeschwert. Ich weiß, dass es solche Männer gibt, ich habe sogar welche kennengelernt, doch lieben könnte ich keinen von ihnen, selbst wenn ich mich darum bemühte. Ich liebe diejenigen, die leiden, und sie lieben mich. Sie lieben es, mich auf ihren schönen italienischen Möbelstücken sitzen zu sehen, und sie lieben es, mich weinen zu sehen.
    Und ich weiß, wie albern das ist. Man tötet keine Frau, indem man Sex mit ihr hat. Man tötet sie mit einem Messer oder einem Seil oder einem Hammer oder einer Pistole. Man erwürgt sie mit ihrer Strumpfhose. Aber man tötet sie nicht mit einem Penis. Daher ist alles – das: Ich hasse dich, Ich liebe dich, Ich hasse – ein Traum vom Töten und vom Sterben, so viel begreife ich: dass, wenn man sich voneinander wegwälzt, um einzuschlafen, der Traum für einen weiteren Tag ausgeträumt ist.
    In Betracht zu ziehen ist auch die Lust des Jungen. Und die Frage, wen er hasste und wen er liebte. Obwohl Liam, in dieser Erinnerung, in diesem Bild, sein gewohntes Gesicht aufgesetzt hatte, ein offenes Gesicht von schlichtem Weiß, mit zwei geschwungenen schwarzen Brauen über Augen, die so weit aufgerissen waren, dass sie marineblau aussahen.
    Er war erschrocken.
    Und ich weiß, wie ich dachte, noch ehe mir die Szene klar wurde: Das also ist das Geheimnis. Das Ding in der Hose eines Mannes – so also benimmt es sich, wenn es zornig ist: Es verwandelt sich in die Gestalt eines kläglichen Jungen.
    In meiner Erinnerung ist es sehr kalt. So wie die Kälte einer imaginären Haut, die nicht ganz mit der eigenen zusammenfällt, und genau dann, wenn ich mich an das Dunkel der Luft an jenem Tag in Adas guter Stube erinnere, fröstle ich.
    Auch einen Geruch nach Desinfektionsmitteln gab es, der mir für immer im Gedächtnis haften wird, der Geruch nach etwas Missratenem.
    Ich denke oft daran, wie Nugent mich ansah, als er begriff, dass ich in der Tür stand. Die Hand des Jungen (die sich bestimmt bewegt hat) hält inne, und es dauert einen Augenblick, bis Nugent, der sich zurücklehnt von seiner schwierigen Lust, dies bemerkt. Einen Augenblick lang will er, dass die Hand des Jungen sich weiterbewegt, glaubt, dass sie sich weiterbewegt, einmal, zweimal, bis seine Sinne über ihr störrisches Stillhalten stolpern und er die Augen aufschlägt und mich dastehen sieht.
    »Wirst du wohl Leine ziehen?«, sagt er, und als Liam seine arme Hand aus dem Hosenstall des Mannes nimmt, habe ich das Gefühl, allen Beteiligten den Spaß verdorben zu haben.
    Ich zögere, während ich dies niederschreibe, lege mir die Hand aufs Gesicht und lecke mit meiner Mädchenzunge die dicke Haut meines Handtellers. Ich atme ein. Der sonderbare Trost des Fleisches. Der sonderbare Trost, ich zu sein.
    An jenem Tag, wie an so vielen Tagen danach, habe ich in Liams Augen eine große Freudlosigkeit gesehen – doch als Nugent mich anblickte, ein kleines Mädchen in Schuluniform, das den Türknauf in der Hand hielt, war der Ausdruck in seinen Augen der ganz gewöhnlicher Verärgerung.
    »Wirst du wohl Leine ziehen?«
    Genau das tat ich. Ich schloss die Tür und rannte nach oben zur Toilette, ich hatte das Bedürfnis, Pipi zu machen und alles herausfließen zu sehen, zu stochern, zu kratzen oder zu reiben, wenn ich fertig wäre, und

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