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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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wegziehen will. Auf einem Parkplatz auf dem Gipfel des Hügels halte ich an, bleibe sitzen und warte darauf, dass jemand mich umbringt.
    Doch dann kommt Unruhe in mein Leben. Ich erlaube mir mittlerweile nicht mehr, mich nächtelang von zu Hause zu entfernen, oder aber ich schnappe mir, sobald alles still ist, meine Sachen und gehe. Dies tue ich vielleicht drei-, vier-, fünfmal, und dann erwache ich auf der Straße hinter dem Sugarloaf oder entlang der Mauer eines Gestüts in Kildare wie aus einer Leere. Es ist nicht verboten, umherzufahren, aber mir, der Hausfrau in ihrem Saab, die ihre schlafenden Kinder im Stich lässt und sie schutzlos ihren Träumen preisgibt, kommt es verboten vor.
    Dann, eines Nachts, weiß ich, welchem Ort ich ausweiche, und indem ich mit ausgreifenden und besonnenen Bewegungen am Steuerrad drehe, bezwinge ich den natürlichen Widerstand des Wagens und fahre die ganze weite Strecke bis nach Broadstone.
    Die Straßen sind eng. Dies sind Spielzeughäuser, sogar für Kinder. Hier hätten wir niemals wohnen können. Wie haben wir dort nur hineingepasst? Ehe ich mich’s versehe, finde ich mich auch schon draußen am Constitution Hill wieder, gegenüber einer niedrigen Mauer mit einer grauen Jungfrau Maria, die über einer grauen runden Welt thront, aber das ist nicht die Festung aus meiner Erinnerung, in der Busse in Reih und Glied geparkt waren. Der Busbahnhof befindet sich weiter unten am Hügel, wenngleich auf einer gewissen Anhöhe, und als ich auf den Fluss zurolle, sehe ich zu meiner Linken die Kirche, in der wir beim Kerzendiebstahl ertappt wurden. Es sei ein Kapuzinerkloster, steht draußen auf dem Schild, und ich will nicht glauben, dass von dort der schreckliche Priester gekommen sein kann, denn dies sind Mönche, wunderbare Menschen, die mitten im Winter Sandalen an den bloßen Füßen tragen. Aber wieso eigentlich nicht? Es mochte sich trotzdem in einem Mönchskloster zugetragen haben.
    Ich fahre wieder hinauf nach Broadstone und finde mich, zu schnell, vor dem kleinen Tor zum Basin ein, wo ich den Wagen abstelle und aussteige. Da ist sie! Das ist die Stelle, wo Liam gepisst hat – nicht, wie ich jetzt sehe, durch einen Maschendraht, sondern durch ein altmodisches Geländer, obwohl alles andere stimmt. Es ist alles noch genauso. Das Wasser. Und der Weg. Hier ist es geschehen.
    Ich steige wieder ins Auto und fahre, ohne die Scheinwerfer einzuschalten, geradewegs zu Adas Haus. Ich parke in der ersten freien Parklücke, und dort bleibe ich fünfzehn, zwanzig Minuten lang sitzen und beschwöre Unmengen dringlicher, schrecklicher Erinnerungen herauf, ehe ich merke, dass ich mich in der Straße geirrt habe, auch wenn die Hausnummer an der Tür die gleiche ist.
     
    Tom erwartet mich an der Tür. Beim Geruch frischer Luft in meinem Mantel blähen sich seine Nasenflügel, dann wendet er sich ab.
    Ich frage: »Wo sind die Mädchen?«
    Er fragt: »Wo warst du?«
    Ich fange an zu lachen. »Haha«, kichere ich, als ich meine Tasche auf die Küchentheke stelle, als ich meinen Mantel ausziehe, als ich ihn unter die Treppe hänge. Er hat die Mädchen zur Schule gebracht und wieder kehrtgemacht, um mich zur Rede zu stellen. Seine verkniffene Miene macht ganz den Eindruck, als könne er mir jeden Augenblick eine Ohrfeige verpassen.
    »Bist du etwa deswegen nicht zur Arbeit?«, frage ich.
    »Wo warst du?«, fragt er, und am liebsten würde ich sagen, ich sei aus gewesen, so wie er die ganze Zeit aus ist. Tun, machen, sein – oder auch nur ficken. Am liebsten würde ich sagen: »Ach, ich war nur mal eben ficken«, in lässig-elegantem Tonfall, aber ich will nicht daran denken, wie blass mein Körper geworden ist, seit ich mich der Dunkelheit überantworte. Ich lege meine Hand sanft auf seine Hemdbrust, und die Geste ist, selbst in meinen Augen, so anmutig, dass sie mich ganz mühelos zu seiner Gürtelschnalle führt, an der ich jetzt mit der anderen Hand zerre, und indem ich ihn so sachte von mir stoße und gleichzeitig an mich ziehe, bringe ich es fertig, meinem Mann einen zu blasen. In unserer eigenen Küche. An einem gewöhnlichen Schultag.
    Das ist wirklich, denke ich. Das ist wirklich.
    Obwohl ich mir eigentlich nicht ganz sicher bin. Als wir fertig sind, drückt Tom mir einen trockenen, zuvorkommenden Kuss mitten auf die Stirn. Er kann nicht behaupten, abgespeist worden zu sein – nicht nach dem Akt, der ihm ganz offiziell von allen der liebste ist -, aber gleichviel, er weiß, dass er

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