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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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danach an meinen Fingern zu riechen. Zumindest vermute ich, dass ich das tat, falls ich acht Jahre alt war, aber vielleicht ließ ich auch nur das Wasser laufen und sah dem Strahl zu oder fuhr mit den Fingerkuppen über die Blasen in der Fensterscheibe des Badezimmers oder lief geistesabwesend umher, wich zurück vor dem Schwindelgefühl des Klosettbeckens und der weißen Wanne, die unerklärlicherweise voller Luft war.
    Ich betrachte meine eigenen Kinder und denke, dass man mit acht alles weiß. Aber vielleicht täusche ich mich ja auch. Man weiß alles mit acht, aber es bleibt einem verborgen, ist hermetisch abgeriegelt, sodass man, will man es finden, sich selbst aufschneiden müsste.

23
    Ich habe angefangen, nachts umherzufahren. Es war mein Kopfstützengeist, der mich zuerst aus dem Haus lockte – ich betrachtete ihn aus den Augenwinkeln, und einen Moment lang dachte ich, er sei verschwunden. Dann ging mir auf, dass er aufs Armaturenbrett gesackt war, geduldig wie ein schwer geprüfter Rentner, der sich zusammenreißt, um nicht zu pinkeln. Ich hatte den Sitz nach vorn geklappt, um Emilys Fahrrad im Fond zu verstauen, und ihn, als wir nach Hause kamen, nicht wieder aufgerichtet. Jetzt hatte der Sitz dort draußen auf dem öffentlichen Fahrdamm einen kleinen, aber schrecklichen Notfall erlitten. Ich sehe auf die Uhr: Es ist drei Uhr dreißig. Um drei Uhr fünfundvierzig klemmt der Sitz noch immer. Um vier Uhr hat er jeden Anschein eines Kampfes aufgegeben und liegt hilflos mit dem Gesicht nach unten. Eine gute halbe Stunde vor dem Morgengrauen hole ich meine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und nehme die Autoschlüssel an mich. Dann gehe ich, mit Glas, Flasche und Korkenzieher, im Regen hinaus zu meinem Kopfstützengeist.
    Als ich die Beifahrertür öffne und den Hebel betätige, springt der Sitz schockiert und erleichtert zurück. Einen Augenblick lang starrt er geradeaus. Er ist noch immer zu allen Schandtaten bereit, mein Kopfstützengeist, wie tausend mechanische Freunde in tausend Zeichentrickfilmen. Ich setze mich ins Auto. Das Sitzpolster ist kalt. Ich ziehe den Korken heraus und schenke mir ein Glas Wein ein, dann stelle ich die Flasche auf den Asphalt und schließe die Tür. Ich mache es mir auf dem Sitz bequem und trinke recht glücklich in seiner frostigen Umarmung, der durch den Regen eine gewisse Intimität verliehen wird.
    In der darauffolgenden Woche oder so tue ich dies etliche Male. Ich gehe hinaus und trinke im Wagen. Manchmal regnet es nicht, und ich bin ganz atemlos, wenn ich allein ins Dunkel hinaustrete, so kahl wirkt unsere kleine Wohnsiedlung nachts; die Nachbarn, jeder in seinem eigenen Wahnsinn gefangen, schlafen in Reihen. Nichts ist von Bedeutung. Das Rollstuhlkind in Nummer sieben, »Parken verboten« in Nummer zehn und mein wartungsaufwendiger Ehemann in Nummer vier, jeder träumt seine üblichen Träume.
    Ich stecke den Schlüssel ins Zündschloss, nur damit mir die Klimaanlage Gesellschaft leistet, und schalte leise das Radio ein. Der Drang umherzufahren ist sehr stark, aber als ich versuche, das Weinglas in den Getränkehalter zu stellen, bleibt es nicht aufrecht stehen. Dennoch – und jetzt bin ich erklärtermaßen verrückt, bin eine verrückte Hausfrau – löse ich den Wagen vorsichtig vom Bordstein und fahre, die ganze Zeit trinkend, im ersten Gang durch die Wohnsiedlung. Ich möchte das leere Glas in jemandes Vorgarten schleudern, aber natürlich tue ich es nicht. Ich halte an, stelle es auf der Straße ab, genau gegenüber der Flasche, und durch diesen kleinen gläsernen Torweg fahre ich – an dem gemeißelten Granitblock am Eingang unserer Enklave vorbei – in die Stadt dahinter.
    Wie ich mich so auf das Stadtzentrum zubewege, befinde ich mich in einem Zustand fast vollkommener Furcht, blicke über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass hinter mir die Sitze im Wagen leer sind, befahre Straßen, die ich noch nie zuvor befahren habe, und halte dabei stets aufs Meer zu. Ich umklammere das Steuerrad und bremse zu scharf vor einer Ampel. Ich schneide den Bordstein einer Verkehrsinsel, und als der Stoß mich wach rüttelt, stelle ich fest, dass wir, der Wagen und ich, bereits auf dem Weg nach Norden sind, die Biegung der Dubliner Bucht entlang. Beim Anblick des Hill of Howth empfinde ich Befriedigung, und als ich die flache Straße befahre, die zu ihm führt, habe ich das Gefühl, dass ich über Sand gleite, dass die Flut mir noch immer den Boden unter den Rädern

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