Das Familientreffen
abgespeist worden ist. Und das macht ihn wütend.
»Ich kann deinen Standpunkt einfach nicht nachvollziehen«, sagt er. Eine Unternehmerphrase von meinem Unternehmerjungen.
Als er fort ist, gehe ich nach oben und lege mich auf Emilys Bett. Dann stehe ich wieder auf, schlage das Federbett zurück und krieche hinein. Ich weiß nicht, wie sie riecht, sie ist wie ein Parfüm, das man zu lange getragen hat, ist meinem Innern noch immer zu nahe. Deswegen kann ich sie nicht richtig riechen, aber als ich mich hinlege, mit dem Gedanken an sie, weiß ich, dass ihr Geruch am Bett haftet. Ich möchte meine Hand über ihren exquisiten Rücken gleiten lassen und über ihren strammen kleinen Po. Ich möchte mich vergewissern, dass alles noch da ist, hübsch verpackt und glücklich, dass die Muskeln meiner Tochter mit ihren Knochen harmonieren. Ich möchte einen Menschen finden, den ich aus dem Stoff meines eigenen Körpers erschaffen und mit zehntausend Tellern Biowürstchen und zuckerfreier Bohnen genährt habe, und ich möchte jeden ihrer Körperteile so fest drücken, bis Emily in kompakte Form gebracht ist. Ich möchte die Arbeit an ihrer Erschaffung abschließen, denn ist sie erst einmal gänzlich erschaffen, wird sie stark sein.
24
Ich nehme den Zug von Brighton nach Gatwick, und in einem Pub im Gatwick Village treffe ich mich mit Kitty zum gemeinsamen Heimflug. Die Kneipe nervt, die übliche Schmiere von Pintgläsern und Aschenbechern, aber auf winzigen Tischchen, damit man mehr Kofferkulis und Rucksäcke und Reisetaschen unterbringen kann. Männer schlafen über ihrem Bier ein, unrasiert und traurig. Der Pub tut nur so, als sei er ein Pub, ein bemaltes Eckchen in der Abfertigungshalle, ein andersfarbiger Fußboden. Türen gibt es nicht. Ich bahne mir einen Weg durch das Durcheinander schmutziger Gepäckstücke und hinausgezögerten Lebens, um Kitty zu finden – eine Frau, die meiner kleinen Schwester auf unheimliche Weise ähnlich sieht, auch wenn sie viel zu alt ist.
Als ich den Tisch erreiche, blicke ich auf die leeren Gläser vor ihr und frage: »Sind das etwa alles deine?«
»Ach, du kannst mich mal«, sagt sie.
»Ich frag ja nur.«
»Zwei davon gehören mir, die anderen nicht. Zufrieden?«
»Magst du noch eins?«
»Ja, danke, sehr gern.«
Ich wende mich ab und will mich wieder zur Theke durchkämpfen, da höre ich sie sagen: »Bunny.« Das ist der Name, den sie mir als Kind gegeben hatte. Ich wende mich ihr zu und umarme sie mit verdrehtem Rücken, weggekrümmtem Rumpf, und sie hebt sich halb zu mir herauf, um die Umarmung entgegenzunehmen, denn ihre Schenkel klemmen unter dem kleinen hölzernen Tischchen fest. Ihr Haar fühlt sich unnatürlich an wie eine Perücke, aber vermutlich ist es einfach nur durch all die Haarfärbemittel und den Frizz-Ease-Traumlocken-Spray kraus geworden. Aus der Entfernung sah es genauso gelockt und schön und schwarz aus wie immer, doch als ich ihr Gesicht prüfe, erkenne ich, dass es im Grunde völlig verfallen ist, all die Ablenkungen – blaue Augen, schelmische Wangen und gewinnendes Lächeln, das ganze keltische Eichkätzchen – sind mir nichts, dir nichts dahingeschmolzen wie Wachs, und das Fleisch hängt nur noch an Knochen, Knochen, Knochen.
»Wie geht’s dir?«, frage ich.
»Wie’s mir geht?«
»Ja. Wie geht’s dir?«
»Gut. Mir geht’s gut.«
»Was wolltest du eigentlich?«, frage ich.
»Einen Gin Tonic, danke.«
»Ja, dachte ich mir schon.«
»Ja.«
Ich glaube, es ist schon viele Jahre her, dass ich an einer Theke einen Drink bestellt habe. Der Barkeeper übersieht mich unglaublich lange. Am liebsten würde ich ihn anschreien, dass ich erwachsen bin und ihm gutes Geld zahlen werde. Ich will rufen: »Mein Bruder ist tot! Nun bedien mich endlich!«, aber was soll’s? Manche Leute haben ihren Bruder zwanzig Jahre lang nicht gesehen.
Ich erhalte Kittys Gin und einen für mich.
»Englische Maße«, sagt sie, hält das Glas in die Höhe und schwenkt es hin und her, als wäre ich ein vollkommener Trottel.
Kitty redet ständig davon, sie sei als Kind geschlagen worden.
Sie war aber auch wirklich ein Racker: Sie legte es auf Prügel geradezu an, und dann bezog sie eben welche, nicht nur von mir und Liam, der sie eigentlich gern hatte, sondern auch von Mossie-dem-Psychotiker, der sie so lange verhöhnte und stichelte, bis sie einen Tobsuchtsanfall à la Shirley Temple bekam. Mit sechs oder sieben Jahren hatte ihr Zorn etwas Transzendentales, ihr Körper
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