Das Feenorakel
Außergewöhnliches geträumt. Und zwar so lebhaft, dass es ihr schon fast nicht mehr wie ein Traum vorkam.
Zunächst hatte sie versucht, sich mit Keksen und warmer Milch müde zu lesen. Sie hatte neben viel Honig sogar einen Schuss Rum hineingegeben. Allerdings war ihr davon ein bisschen übel geworden. Alva mochte den Geschmack von Alkohol nicht besonders.
Ihr Auszug von Zuhause hatte jedoch auch etwas mit Erwachsenwerden zu tun, fand sie. Und Erwachsene tranken eben zum Essen gerne ein Gläschen und gelegentlich auch, um einzuschlafen. Jedenfalls im Film und in Büchern. Ihr Vater und Brigitta waren zwar eine Ausnahme, die Eltern ihrer Freundinnen jedoch größtenteils nicht. Aber das galt für viele andere Dinge auch.
Zurück zum Traum , ermahnte sie sich. Kaum hatte sie gestern Abend die Augen geschlossen, war sie von einem Traumprinzen heimgesucht worden. Bei diesem albernen Wortspiel musste Alva beinahe laut lachen.
Trotzdem. Wie man es auch drehte und wendete, ihr nächtlicher Besuch war Traumprinzen-Material erster Güte gewesen und hundertprozentig die Sorte Mann, von der sie ganz sicher war, dass sie sich niemals für sie interessieren würde. Solche Männer hatten langbeinige Modelfreundinnen und sahen einfach über jemanden wie sie hinweg, die schwindeln musste, um wenigstens im Pass größer als ein laufender Meter zu sein.
Und deshalb verwies sie die Erinnerung an ihren nächtlichen Besucher auch ohne zu zögern in das Reich der Fantasie, obwohl sie auch eine Stunde später noch nichts von ihrer Lebendigkeit verlieren wollte.
Inzwischen hatte sie eine riesige Schale Cornflakes mit sehr viel Milchkaffee hinuntergespült. Doch die nächtliche Begegnung fühlte sich sogar dann noch sehr real an, als sie frisch geduscht versuchte, die Frisur vom Vortag wiederherzustellen.
Mit flüchtigen Träumen kannte sie sich aus, dieser hier aber war anders! Keiner ihrer weißen Träume hätte bis nach dem Frühstück überlebt. Nur das Grauen wäre geblieben, zuverlässig wie der Schmerz, der sie seit ihrem dreizehnten Lebensjahr allmonatlich quälte und ihr in berechenbarer Regelmäßigkeit einen Fehltag in der Schule eingebracht hatte – ganz abgesehen vom Spott der Klassenlehrerin, die, davon waren alle Mädchen überzeugt, längst keine Probleme mehr mit diesem oder irgendeinem anderen Aspekt der Weiblichkeit hatte.
Entschlossen verdrängte sie die Erinnerung an die Schule. Das weiße Nichts war kurioserweise nicht einfach zu vergessen. Der Inhalt war flüchtig, das Grauen erwies sich dafür um so anhänglicher. Diese Träume spielten ihr derart übel mit, dass ihr Unterbewusstsein sie offensichtlich vor Einzelheiten zu schützen versuchte, indem es einfach in den Amnesie-Modus überging. Eine Art gezieltes Vergessen setzte nach dem Aufwachen ein.
Wie man es drehte und wendete, dieses merkwürdige Vergessen war nicht nur unheimlich, sondern auch höllisch nervig. Alva hätte schwören können, dass die Ereignisse in diesen Nächten ihren Schrecken verlören, sobald sie nur einmal die Chance bekäme, sie zu verarbeiten. Doch es war müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wenn sie doch nichts daran ändern konnte. Lieber wollte sie sich an den Traum der vergangenen Nacht erinnern und die aufregenden Ereignisse noch einmal Revue passieren lassen.
Als der Schatten über ihren Balkon geglitten war, hatte sie sofort gewusst, dass etwas nicht in Ordnung sein konnte. Vor lauter Angst hatte sie unter ihren Wimpern hindurch versucht, hastige Blicke auf ihn zu werfen. Die Lichter der Stadt in seinem Rücken hatten eine schlanke Silhouette gezeichnet. Breite Schultern, schmale Hüften, lange Beine, also alles, was ein Mädchenherz höher schlagen ließ. Ihres zumindest reagierte sehr zuverlässig auf Reize dieser Art. Selbstverständlich legte sie nicht unbedingt den größten Wert auf gutes Aussehen. Dazu ermahnte sie sich zumindest regelmäßig, wenn ihr der Anblick der süßen Jungs, die in dem Fotostudio über den Räumen ihres Cello-Lehrers ein- und ausgingen, die Sprache verschlug.
Ihre nächtliche Erscheinung hatte zwar erwachsener gewirkt, hätte jedoch locker mithalten können. Um so bedauerlicher, dass sie ausgerechnet sein Gesicht in der Dunkelheit nicht besonders gut hatte erkennen können. Die gerade Linie seines Kiefers und der sinnlich geschwungene Mund waren sehr vielversprechend gewesen.
Immerhin wusste sie, dass er helles Haar besaß, das sich sehr weich anfühlte, denn es hatte ihre
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