Das Feenorakel
nichts davon hören, hatte es eine pubertäre Laune genannt, die vorübergehen würde. Aber eines war klar, sie musste raus aus dieser Enge einer gut funktionierenden Familienfirma: Frühstück, Mittagessen, Abendbrot. Am Wochenende der Kaffeenachmittag bei Oma. Ihre zwei jüngeren Geschwister mochten diese Routine normal finden, Alva sehnte sich nach einem anderen Leben. Wie das aussehen sollte, wusste sie zwar noch nicht, und wie sie ihre Freiheit finanzieren sollte, war ihr auch nicht klar. Aber eines wusste sie ganz genau: Nur raus hier!
Dafür hatte sie in den letzten Monaten mit Klauen und Zähnen gekämpft, und war doch überrascht gewesen, als ihre Eltern schließlich zugestimmt hatten: «Die Schule ist vorbei», hatte ihr Dad gesagt und ihr Abschlusszeugnis mit einem traurigen Kopfschütteln beiseitegelegt. «Nun musst du dein Leben selbst in die Hand nehmen.»
Alva hatte ihn mit offenem Mund angestarrt. Warf er sie jetzt vielleicht einfach raus?
Doch dann hatte er sie ganz fest umarmt und ihr einen Umschlag in die Hand gedrückt. «Ich bin immer für dich da!», und sie hatte geglaubt, Tränen in seinen Augen glitzern zu sehen, bevor er sich abrupt umgedreht hatte, um ihr Zimmer zu verlassen. In der Tür, die Hand schon auf der Klinke, war er noch einmal stehen geblieben. «Sonntag werden wir bei deiner Großmutter sein, das wäre eine gute Gelegenheit ...»
So schnell schon? , beinahe wäre sie mit ihrer Verwunderung laut herausgeplatzt. Bis Sonntag waren es nur noch drei Tage. Andererseits, warum nicht? Schon lange hatte sie jede Ausrede bemüht, um nicht mitfahren zu müssen. Stattdessen war sie zurückgeblieben, um das leere Haus zu hüten, und dabei hatte sie jedes Mal ein Stück von dieser Freiheit gespürt, nach der sie sich sehnte.
Und nun läuteten die Glocken zum Abendgottesdienst, und sie wusste, dass ihre Familie bald von ihrem Ausflug zurückkehren würde.
Die schwere Tasche landete geräuschvoll auf dem Boden, und Alva ging mit schnellen Schritten zum Schreibtisch, auf dem der Abschiedsgruß lag, an dessen wenigen Sätzen sie lange gefeilt hatte. Sie zerknüllte das Papier und steckte es in die Tasche.
Warum große Worte machen? Sie hatte ihren Willen bekommen, und wozu gab es Handys? Sollten sie doch anrufen, falls es sie noch interessierte, wie es ihr ging.
Auf dem Weg hinaus streifte ihr Blick den kleinen Plüschhasen, der sie ihr Leben lang begleitet hatte. Einem Impuls folgend nahm sie ihn und stopfte ihn in ihre Reisetasche. Der Reißverschluss ließ sich nun nicht mehr schließen und der Hase blickte mit ausdruckslosem Gesicht zurück, während seine Ohren bei jedem ihrer Schritte mitschwangen, als sie das Haus verließ, ohne sich noch einmal umzusehen.
Tom warf seine Zigarette auf den Boden, trat sie aus und lächelte. Alva hob unwillkürlich das Kinn ein bisschen höher. Sie wusste, dass ihm gefiel, was er sah. Er hatte es ihr oft genug gesagt. Sie fand sich eigentlich ganz in Ordnung, ein bisschen klein vielleicht. Bei den Angaben für ihren Ausweis hatte sie geschummelt. Die drei Zentimeter zu den Einssechsundsechzig, die sie angegeben hatte, weil ihr die Zahl besonders gut gefiel, fehlten immer noch. Wie es aussah, würde sie auch nicht mehr wachsen. Doch das war ihr gleich und ganz bestimmt kein Grund, um auf schwindelerregend hohen Absätzen herumzulaufen, wie es andere Mädchen taten. Alva fand ihre Beine lang genug, und der Rest stimmte auch. Zumindest dachte sie das an guten Tagen. An anderen wünschte sie sich weniger schräg gestellte Augen und vielleicht eine nicht ganz so niedliche Nase. Beides trug dazu bei, dass sie ihrem Namen alle Ehre machte. Alva , so hatte ihr Vater ihr erklärt, sei schwedisch und hieße Elfe oder auch Fee. Es war das Einzige, was ihr ihre unbekannte leibliche Mutter mit auf den Weg gegeben hatte.
Früher hatte sie sich Fremden gern mit den Worten vorgestellt: «Hi, ich bin Alva, ein adoptiertes Waisenkind.» Es gefiel ihr, wenn die Leute zusammenzuckten und verlegen schauten. Wahrscheinlich stellten sie sich ein armes, kleines Mädchen vor, das schwer unter seinem Schicksal zu leiden hatte.
Aber so war es nicht. Woher sollte Alva wissen, welchen Charakter ihre leibliche Mutter hatte, und von einem Vater war überhaupt nicht die Rede gewesen. Warum sie in ihrer neuen Familie gelandet war, wusste sie ebenfalls nicht, nur dass dies bereits in den ersten Wochen nach ihrer Geburt geschehen sein musste.
Brigitta, ihre Adoptivmutter, war
Weitere Kostenlose Bücher