Das Feenorakel
seiner Entspannung bei. Genauso wenig wie die Entdeckung, dass sie offenbar alle hier lebten. Na großartig! Er unterdrückte den Fluch, der auf seinen Lippen lag. Solange er sich in der Zwischenwelt befand, war es angebracht, allzu starke Emotionen zu verbergen. Die rätselhafte Dimension verhielt sich zuweilen wie ein lebendiges Wesen, und es empfahl sich nicht, seine Aufmerksamkeit zu wecken. Sie war stets hungrig und verschlang alles, was sich nicht vor ihr zu schützen wusste.
Also sah er sich nach einem geeigneten Beobachtungsposten um. Prüfend betrachtete er das gegenüberliegende Haus. Schließlich entschied er sich aber gegen den luftigen Sitz im Schatten eines Schornsteins und stieg in den Baum, der neben Alvas Balkon wuchs.
Von hier aus konnte er ihr Zimmer und die Haustür sehen und war zudem von einem dichten Blattwerk geschützt. So vermied er es, seine Energie damit zu verschwenden, über einen längeren Zeitraum unsichtbar zu bleiben. Diese Entscheidung wurde belohnt, als Alva schließlich ihr Zimmer betrat, es sich dann jedoch anscheinend anders überlegt hatte und wieder hinausging. Obwohl er sie deshalb nur kurz betrachten konnte, fand Julen, dass sie weitaus jünger wirkte, als ihre Stimme es hatte vermuten lassen. Vielleicht lag es daran, dass sie sich eher wie ein Junge kleidete. Ein zu großes T-Shirt und eine löchrige Jeans, die aussah, als gehörte sie ihrem großen Bruder, verbargen ihre Gestalt, und das schmale Gesicht verschwand fast vollständig hinter einem seidigen Schleier schwarz gefärbter Haare, die ihr bis weit über die Schultern reichten. Dem Kenner blieben die appetitlichen Formen ihres Körpers dennoch nicht verborgen.
Bedauerlich, dass sie Tabu ist, dachte Julen und schimpfte sich gleich darauf einen Dummkopf. Würde er nie lernen, dass Vampire die einzigen weiblichen Wesen waren, mit denen ein Dunkelelf sich einlassen durfte? Alles andere endete entweder mit lebenslänglich, was für jemanden wie ihn praktisch das Gleiche wie für die Ewigkeit bedeutete, oder es wurde sehr schnell sehr kompliziert.
Während er auf ihre Rückkehr wartete, verließen ihre drei Mitbewohner das Haus. Dabei taten sie ihm den Gefallen, einzeln und im Abstand von wenigen Minuten herauszukommen. Zuerst kam ein langer Typ mit braunem Haar, schloss ein Fahrrad los und fuhr davon. Fünf Minuten später polterte es im Treppenhaus, ein blonder Mann erschien, ging mit langen Schritten über den Hof und machte eine ausgesprochen gute Figur, als er in sein offenes Cabrio sprang. Ein Bild von ihm hatte in Alvas Elternhaus gestanden. Du bist also Tom! Julens Lippen kräuselten sich. Ich werde ein Auge auf dich haben, mein Freund! Entgegen seiner Erwartung fuhr Tom nicht sofort los, sondern ließ nur den Motor an und wendete. Wartete er etwa auf Alva? Julen hatte heute noch nicht viel gegessen, genauer gesagt getrunken. Es würde ihm schwerfallen, den beiden über eine sehr weite Strecke zu folgen.
Der Mann hupte zweimal und im Haus fiel eine Tür ins Schloss.
Zum Glück war es nicht Julens Schützling, sondern die zweite Frau, die er in der Wohnung gehört hatte. Auch sie war ausgesprochen hübsch, und er grinste, während er dem davonfahrenden Wagen hinterhersah. Mit den beiden Männern, die er auf Mitte zwanzig schätzte, würde er mit links fertig werden, falls sie jemals Schwierigkeiten machen sollten, und wer hätte schon etwas gegen schöne Frauen einzuwenden? Diese hier war auf jeden Fall volljährig und eine Sünde wert.
Die kritische Stimme in seinem Unterbewusstsein, die ihn daran erinnerte, dass es genau dieser Leichtsinn war, der ihn schon immer in Schwierigkeiten gebracht hatte, ignorierte er. Es gab Wichtigeres zu tun, als über längst vergangene Zeiten nachzudenken, denn in diesem Augenblick kehrte Alva zurück und band, während sie die Tür mit dem Fuß schloss, ihr Haar in einer sinnlichen Bewegung zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dabei offenbarte sie ihrem heimlichen Beobachter einen elegant geschwungenen Hals, der ihn schlucken ließ. Verdammt! Die Kleine war nicht zu unterschätzen. Was wird das, Kieran? , fragte er lautlos seinen Auftraggeber. Wollt ihr meine Selbstdisziplin testen? Selbstverständlich erhielt er keine Antwort.
Während Julen also mit seinem Schicksal haderte, das ihm diesen Auftrag eingebrockt hatte, durchquerte sie das Zimmer und blieb vor einem Instrumentenkoffer stehen, öffnete ihn und nahm ein Cello heraus, das auf den ersten Blick viel zu groß für sie
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