Das fehlende Glied in der Kette
etwas äußerst Wichtiges gewesen sein, weil er dieses Risiko einging.»
«Aber was war das?»
«Ha!» Poirot machte eine wütende Handbewegung. «Das weiß ich nicht! Zweifellos irgendein wichtiges Dokument, möglicherweise das Blatt Papier, das Dorcas gestern Nachmittag in ihrer Hand sah. Und ich» – hier brach sich sein Zorn freie Bahn –, «ich Unglückswurm, der ich bin! Ich habe das nicht erraten! Ich habe mich wie ein Dummkopf aufgeführt! Ich hätte den Koffer niemals hier stehen lassen dürfen. Ich hätte ihn mitnehmen müssen. Ah, gleich dreimal gepatzt! Und jetzt ist es verschwunden. Es ist zerstört – aber ist es wirklich zerstört? Gibt es nicht noch eine kleine Chance? Wir dürfen nichts unversucht lassen…»
Er rannte wie ein Verrückter aus dem Zimmer, und ich folgte ihm, sobald ich meine fünf Sinne wieder beisammen hatte. Aber als ich oben auf dem Treppenabsatz ankam, war er nicht mehr zu sehen.
Mrs. Cavendish stand dort, wo die Treppe sich gabelte, und starrte hinunter in die Halle in die Richtung, in der er verschwunden war.
«Was ist denn Ihrem seltsamen kleinen Freund widerfahren, Mister Hastings? Er ist gerade wie ein wütender Stier an mir vorbeigestürmt…»
«Er hat sich über etwas sehr aufgeregt», bemerkte ich wenig überzeugend. Ich wusste wirklich nicht, wieviel ich mit Poirots Einverständnis verraten durfte. Um Mrs. Cavendishs ausdrucksvollen Mund spielte ein leises Lächeln, bei dessen Anblick ich es wagte, das Thema zu wechseln: «Sie sind sich noch nicht begegnet, die beiden, oder?»
«Wer?»
«Mr. Inglethorp und Miss Howard.»
Sie sah mich auf eine irritierende Weise an.
«Halten Sie es für ein solches Unglück, wenn sie sich begegnen würden?»
«Na, Sie etwa nicht?», fragte ich erstaunt.
«Nein.» Sie lächelte auf ihre zurückhaltende Art. «Mir wäre ein ordentlicher Wutausbruch ganz recht. Der würde die Luft reinigen. Im Augenblick grübeln alle nur vor sich hin und sagen kaum etwas.»
«John ist da anderer Meinung. Er möchte sie unbedingt auseinander halten.»
«Ach, John!»
Irgendetwas in ihrer Stimme reizte mich, und ich platzte heraus: «Der alte John ist ein unheimlich netter Kerl!»
Ein paar Sekunden lang sah sie mich aufmerksam an, dann sagte sie zu meiner großen Überraschung: «Sie halten Ihrem Freund die Treue. Das mag ich an Ihnen.»
«Sind wir nicht auch Freunde?»
«Ich bin eine sehr schlechte Freundin.»
«Warum sagen Sie das?»
«Weil es wahr ist. Heute bin ich nett zu meinen Freunden und morgen schon habe ich sie vergessen.»
Ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt, aber ich war gekränkt, und so sagte ich törichterweise und nicht gerade sehr taktvoll: «Aber zu Dr. Bauerstein sind Sie immer nett!»
In der nächsten Sekunde bereute ich meine Worte. Ihr Gesicht wurde zur Maske: Es war so, als würde sich ein eiserner Vorhang senken und die wirkliche Mary Cavendish verbergen. Wortlos drehte sie sich um und schritt rasch die Treppe hoch, während ich ihr wie ein Idiot mit offenem Mund hinterherstarrte.
Ein lauter Streit in der Halle unten holte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Ich hörte Poirot brüllen und argumentieren. Es kränkte mich, dass meine ganze Diplomatie umsonst gewesen sein sollte. Der kleine Mann war offensichtlich dabei, alle Hausbewohner ins Vertrauen zu ziehen, eine Vorgehensweise, deren Klugheit zumindest ich bezweifelte. Wieder einmal bedauerte ich, dass mein Freund dazu neigte, in stürmischen Situationen den Kopf zu verlieren. Rasch ging ich die Treppe herunter. Bei meinem Anblick beruhigte Poirot sich beinahe sofort. Ich zog ihn beiseite.
«Mein lieber Freund», sagte ich, «ist das klug? Bestimmt wollen Sie doch nicht, dass alle im Haus von diesem Vorfall erfahren? Sie spielen damit dem Täter ja in die Hände.»
«Glauben Sie, Hastings?»
«Ich bin mir ganz sicher.»
«Na gut, mein Freund, ich werde Ihrem Rat folgen.»
«Gut. Obwohl es dafür jetzt ein bisschen zu spät ist.»
«Wie wahr.»
Er sah so niedergeschlagen und beschämt aus, dass er mir schon wieder Leid tat, obwohl ich immer noch glaubte, dass meine Kritik korrekt und begründet gewesen war.
«Dann lassen Sie uns gehen, mon ami», sagte er schließlich.
«Sind Sie hier fertig?»
«Ja, zumindest im Augenblick. Begleiten Sie mich zurück ins Dorf?»
«Gern.»
Er ergriff sein Köfferchen und wir gingen durch die offene Terrassentür in den Salon. Cynthia Murdoch kam gerade herein und Poirot trat zurück, um sie vorbei zu
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