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Das fehlende Glied in der Kette

Das fehlende Glied in der Kette

Titel: Das fehlende Glied in der Kette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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schon besser», sagte Miss Howard etwas freundlicher.
    «Aber ich muss Sie bitten, mir zu vertrauen. Ihre Hilfe kann jetzt sehr wertvoll für mich sein. Ich werde Ihnen sagen, warum. Weil in diesem ganzen großen Trauerhaus Ihre Augen die einzigen rot geweinten sind.»
    Miss Howard blinzelte und in ihrer barschen Stimme war ein neuer Unterton.
    «Wenn Sie damit sagen wollen, dass ich sie gern hatte – ja, das stimmt. Wissen Sie, Emily war auf ihre Weise eine egoistische alte Frau. Sie war sehr großzügig, aber sie verlangte immer eine Gegenleistung. Sie ließ die Leute nie vergessen, was sie für sie getan hatte – und auf diese Weise erntete sie keine Liebe. Aber glauben Sie nur nicht, das hätte sie nicht gewusst, oder nicht gespürt. Jedenfalls glaube ich das nicht. Bei mir lagen die Dinge anders. Ich habe das gleich zu Anfang klar gestellt. ‹Ich koste Sie so und so viel Geld im Jahr. Aber damit hat sich’s. Keinen einzigen Penny mehr, kein Paar Handschuhe, keine Theaterkarte.› Das verstand sie nicht – manchmal war sie deshalb ziemlich beleidigt. Sagte, ich hätte einen albernen Stolz. Das war es aber nicht, ich kann es nur schwer erklären. Jedenfalls bewahrte ich mir so meine Selbstachtung. Und deshalb war ich die Einzige von der ganzen Meute, die sich liebevolle Gefühle für sie leisten konnte. Ich passte auf sie auf. Ich beschützte sie vor den anderen. Und dann kam dieser Süßholz raspelnde Lump ins Haus und wutsch! waren meine jahrelangen Mühen für die Katz.»
    Poirot nickte verständnisvoll.
    «Ich verstehe, Mademoiselle, ich verstehe, was Sie fühlen. Das ist nur natürlich. Sie halten uns für gleichgültig – Sie denken, es mangelt uns an Begeisterung und Energie –, aber glauben Sie mir, das stimmt nicht.»
    Da steckte John seinen Kopf durch den Türspalt und forderte uns auf, nach oben in Mrs. Inglethorps Zimmer mitzukommen, da er und Mr. Wells mit der Durchsuchung des Schreibtischs im Boudoir fertig seien.
    Als wir die Treppe hochgingen, blickte John zum Esszimmer zurück und senkte vertraulich seine Stimme: «Guter Gott, was wird nur sein, wenn diese beiden aufeinander treffen?»
    Ich schüttelte ratlos den Kopf.
    «Ich habe Mary gebeten, sie nach Möglichkeit auseinanderzuhalten.»
    «Ob ihr das gelingen wird?»
    «Das weiß nur der liebe Gott. Aber Inglethorp selbst ist auch nicht gerade scharf darauf, ihr zu begegnen.»
    «Sie haben doch noch die Schlüssel, Poirot, nicht wahr?», fragte ich, als wir vor der Tür des verschlossenen Zimmers standen.
    John erhielt von Poirot die Schlüssel und schloss auf, und wir gingen hinein. Der Rechtsanwalt ging direkt zum Tisch und John folgte ihm.
    «Meine Mutter bewahrte meines Wissens ihre wichtigsten Papiere in diesem Aktenkoffer auf.»
    Poirot holte einen kleinen Schlüsselbund hervor.
    «Gestatten Sie. Ich habe ihn heute Morgen vorsichtshalber abgeschlossen.»
    «Aber jetzt ist er offen.»
    «Unmöglich!»
    «Hier!» Während er das sagte, hob John den Deckel hoch.
    «Mille tonnerres!», rief Poirot überrascht. «Und ich – ich habe beide Schlüssel in meiner Tasche!» Er stürzte sich auf den Koffer. Plötzlich erstarrte er. « En voilà une affaire! Dieses Schloss wurde gewaltsam geöffnet!»
    «Was?»
    Poirot legte den Koffer wieder hin.
    «Aber wer brach es auf? Und warum? Wann? Aber die Tür war doch abgeschlossen!», stießen wir unzusammenhängend hervor.
    Poirot antwortete kategorisch – fast mechanisch.
    «Wer? Das ist die Frage. Warum? Ach, wenn ich das nur wüsste. Wann? In der vergangenen Stunde, nachdem ich hier war. Die Tür war zwar verschlossen, aber das ist ein sehr einfaches Schloss. Wahrscheinlich passt dazu jeder andere Zimmerschlüssel von diesem Flur.»
    Wir sahen einander ratlos an. Poirot war zum Kaminsims gegangen.
    Nach außen hin war er ruhig, aber ich sah, dass seine Hände heftig zitterten, als er aus alter Gewohnheit die Vasen auf dem Sims gerade rückte.
    «Es gibt dafür nur eine Erklärung», sagte er schließlich. «In diesem Koffer war irgendetwas – irgendein Beweisstück, vielleicht ganz unscheinbar, aber immer noch verräterisch genug, um den Mörder mit dem Verbrechen in Zusammenhang zu bringen. Es war für ihn absolut wichtig, dass er es zerstörte, bevor es entdeckt und seine Bedeutung erkannt wurde. Deshalb nahm er das Risiko auf sich – das große Risiko – und kam her. Er fand den Koffer verschlossen, also musste er das Schloss aufbrechen und damit seine Anwesenheit verraten. Es muss also

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