Das fehlende Glied in der Kette
lassen.
«Entschuldigen Sie, Mademoiselle, nur eine Minute.»
«Ja?» Sie drehte sich fragend um.
«Haben Sie jemals die Medizin für Mrs. Inglethorp zubereitet?»
Sie errötete leicht, während sie eher steif antwortete: «Nein.»
«Nur ihre Schlafpulver.»
Sie errötete noch stärker, während sie antwortete: «Oh ja, ich habe ihr mal ein Schlafpulver zubereitet.»
«Das hier?»
Poirot zeigte ihr die leere Schachtel, in der die Schlafmittel gewesen waren.
Sie nickte.
«Können Sie mir sagen, woraus sie bestanden? Sulfonal? Veronal?»
«Nein, es war ein Brompräparat.»
«Aha! Danke schön, Mademoiselle, auf Wiedersehen.»
Als wir uns mit schnellem Schritt vom Haus entfernten, sah ich ihn mehr als einmal an. Ich hatte schon oft bemerkt, dass seine Augen grün wurden wie die einer Katze, wenn ihn etwas erregte. Jetzt funkelten sie wie Smaragde.
«Mein Freund», brach es schließlich aus ihm heraus, «ich habe eine kleine Idee, eine sehr seltsame und wahrscheinlich gänzlich unmögliche Idee. Und dennoch – so passt alles zusammen.»
Ich zuckte die Achseln. Ich fand, dass Poirot ohnehin viel zu viele dieser phantastischen Einfälle hatte. In dem Fall hier war die Wahrheit ja nur zu klar ersichtlich.
«Das ist also die Erklärung für das leere Etikett auf der Schachtel», stellte ich fest. «Sehr einfach, wie Sie schon sagten. Ich wundere mich wirklich, dass ich nicht selber darauf gekommen bin.»
Aber Poirot schien mir gar nicht zuzuhören.
«Sie haben eine weitere Entdeckung gemacht, là-bas.» Er wies mit dem Daumen über die Schulter in die Richtung von Styles. «Mr. Wells erzählte mir davon, als wir nach oben gingen.»
«Was denn?»
«Im Schreibtisch im Boudoir fanden sie ein Testament von Mrs. Inglethorp, das sie vor ihrer Ehe verfasst haben muss, in dem sie ihr gesamtes Vermögen Alfred Inglethorp hinterlässt. Sie muss es zur Zeit ihrer Verlobung gemacht haben. Mr. Wells war davon sehr überrascht – und John Cavendish ebenfalls. Es war auch auf einem dieser vorgedruckten Formulare geschrieben und von zwei Zeugen beglaubigt – aber nicht von Dorcas.»
«Wusste Mr. Inglethorp davon?»
«Er sagt, nein.»
«Das muss man ja nicht unbedingt glauben», bemerkte ich skeptisch. «All diese Testamente sind ziemlich verwirrend. Verraten Sie mir doch bitte, wie Ihnen diese Kritzeleien auf dem Briefumschlag verraten konnten, dass gestern Nachmittag ein Testament gemacht wurde.»
Poirot lächelte.
«Mon ami, haben Sie niemals beim Briefeschreiben erlebt, dass Sie plötzlich nicht mehr wussten, wie ein bestimmtes Wort geschrieben wird?»
«Ja, oft. Ich glaube, das passiert jedem mal.»
«Genau. Und haben Sie nicht auch in so einem Fall das Wort ein- oder zweimal auf den Rand vom Löschpapier gekritzelt? Genau das hat Mrs. Inglethorp getan. Wenn Sie genau hinschauen, dann sehen Sie, dass das Wort ‹besessen› zuerst mit ß – ‹beseßen› – und danach richtig mit zwei s geschrieben wurde. Um sicher zu gehen, hatte sie es auch noch in einem Satz ausprobiert: ‹ich habe besessen›. Eh bien, und was verriet mir das? Ich erfuhr dadurch, dass Mrs. Inglethorp an diesem Nachmittag das Wort ‹besessen› geschrieben hat, und im Zusammenhang mit dem verkohlten Papierfetzen aus dem Kamin fiel mir sofort ein, dass es sich dabei um ein Testament handeln könnte, da ein solches Dokument mit ziemlicher Sicherheit dieses Wort enthalten würde. Diese Möglichkeit wurde durch einen anderen Umstand noch bestätigt. In der allgemeinen Aufregung war das Boudoir heute Morgen nicht gefegt worden, und in der Nähe des Schreibtischs lagen einige Erd- und Humusklümpchen. Das Wetter in den letzten Tagen war jedoch ausnehmend schön, und deshalb konnte kein gewöhnlicher Schuh diese Spuren hinterlassen haben.
Ich schlenderte ans Fenster und sah sogleich, dass die Begonien in dem Beet erst vor kurzem eingepflanzt worden waren. Der Humus auf dem Beet war genau der gleiche wie der auf dem Fußboden im Boudoir, und von Ihnen erfuhr ich dann, dass die Blumen gestern Nachmittag gepflanzt worden waren. Ich war mir jetzt sicher, dass einer oder möglicherweise beide Gärtner – denn in dem Beet gab es zwei verschiedene Spuren – in das Boudoir gekommen waren, denn wenn Mrs. Inglethorp mit ihnen nur hätte sprechen wollen, hätte sie sich höchstwahrscheinlich ans Fenster gestellt und die Gärtner hätten das Zimmer gar nicht betreten. Ich war nun ziemlich überzeugt davon, dass sie ein neues Testament gemacht und
Weitere Kostenlose Bücher