Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Fenster zum Hof

Das Fenster zum Hof

Titel: Das Fenster zum Hof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornell Woolrich
Vom Netzwerk:
vernehmbar. Seine Schuhe
hatten Gummiabsätze, und er konnte die Füße nicht weit genug drehen, um mit dem
Lederteil auf den Boden aufzutreffen. Ein stechender Schmerz jagte ihm wie ein
Stromstoß durch die Beine und weiter das Rückgrat hinauf, um in seinem Kopf wie
eine Leuchtrakete zu explodieren.
    Indessen hatten ihre Schritte in Höhe
der Garderobe angehalten (sie hängte wohl ihren Mantel auf), gingen dann weiter
zur Treppe nach oben und verhallten auf dem Weg in den ersten Stock. Nun war
sie für ihn kurzfristig außer Hörweite, aber immerhin noch bei ihm im Haus! Das
befreite ihn von dem fürchterlichen Gefühl, allein zu sein. Er war so dankbar
für ihre Nähe, liebte und brauchte sie jetzt so sehr, daß er sich fragte, wie
er nur jemals daran hatte denken können, sie umzubringen — noch vor nicht mehr
als einer Stunde! Er sah jetzt, daß er geistig umnachtet gewesen sein mußte,
allen Ernstes an so etwas zu denken. Nun gut, jetzt war er jedenfalls wieder
bei Sinnen, bei klarem Verstand, diese Tortur hatte ihn wieder zur Vernunft
gebracht. Wenn sie ihn nur erlöste, nur aus dieser Gefahr befreite, dann würde
er nie wieder...
    Fünf nach. Sie war jetzt seit neun
Minuten wieder da. Jetzt seit zehn. Zuerst ganz langsam, dann immer schneller
ergriff wieder die Furcht von ihm Besitz, die ihre Heimkehr für kurze Zeit
zurückgedrängt hatte. Warum blieb sie so lange dort droben im ersten Stock?
Warum kam sie nicht herunter in den Keller, um nach irgendetwas zu suchen? Gab
es denn hier unten nichts, was sie plötzlich brauchte? Er sah sich um: nichts.
Hier gab es nichts, weswegen sie nach unten hätte kommen können. Der Keller war
perfekt aufgeräumt, fast leer. Warum hatten sie ihn nicht mit allem möglichen
Gerümpel vollgestopft, so wie andere Leute? Das hätte ihn jetzt retten können.
    Womöglich wollte sie den ganzen
Nachmittag da droben bleiben! Vielleicht legte sie sich hin und hielt ein Nickerchen,
wusch sich die Haare oder änderte ein Kleid, das ihr nicht mehr richtig paßte.
Jede dieser banalen, harmlosen Beschäftigungen einer Hausfrau in Abwesenheit
ihres Mannes konnte sich jetzt als verhängnisvoll erweisen! Womöglich hatte sie
vor, da oben zu bleiben, bis es Zeit wurde, sein Abendessen zuzubereiten, und
wenn sie das tat - kein Abendessen, keine Mrs. Stapp, kein Mr. Stapp mehr!
    Dann fiel ihm wieder etwas Beruhigendes
ein. Der Mann. Der Mann, den er zusammen mit ihr vernichten wollte, er würde
ihn retten. Er würde das Werkzeug zu seiner Rettung sein. Er kam schließlich
auch sonst, nachmittags, wenn Stapp weg war, oder? Dann, lieber Gott, mach, daß
er auch heute kommt, mach, daß sie heute ein Rendezvous haben (aber vielleicht
hatten sie gerade heute keines!). Denn wenn er kam, würde sie herunter ins
Parterre kommen, und sei es nur, um ihn hereinzulassen. Und seine Chancen
würden unvergleichlich größer sein, mit zwei Paar Ohren in der Nähe, die ein
leises Geräusch mitbekommen konnten, statt nur einem.
    Und so befand er sich in der absurden
Lage eines Ehemannes, der mit aller Inbrunst, zu der er fähig ist, darum betet,
daß ein Rivale auffaucht, daß ein Nebenbuhler, dessen Existenz er bislang nur
geahnt hatte, ohne sicher zu sein, daß es ihn wirklich gab, hier ins Haus kam.
    Elf nach zwei. Noch neunundvierzig
Minuten. Nicht einmal mehr genug Zeit, um sich einen Kinofilm bis zur Pause
anzusehen. Nicht einmal mehr genug Zeit, um sich beim Friseur die Haare
schneiden zu lassen, wenn man vorher ein wenig warten mußte. Nicht einmal mehr
genug Zeit für ein sonntägliches Mittagessen, um sich eine normale Sendung im
Radio anzuhören oder mit dem Bus hinaus an den Strand zu fahren, um sich kurz
im Meer abzukühlen. Zu alldem blieb ihm nicht mehr genug Zeit — und das war der
Rest seines Lebens! Nein, nein, er hatte doch noch mit dreißig, vierzig Jahren
rechnen können! Was war aus diesen Jahren, diesen Monaten, diesen Wochen
geworden? Nicht mehr als diese paar Minuten, nein, das war nicht fair!
    »Fran«, kreischte er. »Fran, komm hier
runter! Hörst du mich denn nicht ?« Der Knebel saugte
es auf wie ein Schwamm.
    Dann klingelte unten in der Diele, auf
halbem Weg zwischen ihm und ihr, das Telefon. Nie zuvor hatte er so ein
wunderbares Geräusch gehört. »Gott sei Dank«, schluchzte er, und Tränen traten
ihm in die Augen. Das war sicher der Mann. Jetzt würde sie herunterkommen.
    Dann wieder ein Anfall von Panik. Und
wenn er nur anrief, um ihr mitzuteilen, daß er nicht kam? Oder

Weitere Kostenlose Bücher