Das Fest Der Fliegen
mit unwesentlichen Variationen schon etliche Male aufgesagt. Er stieg vom Podest hinunter, gesellte sich zu den am nächsten stehenden Gästen und forderte sie auf, sich zu stärken, da nur, wer stark sei, auch für das Gute kämpfen könne in der Welt. Man lachte und stimmte ihm zu. Auf einen Wink von ihm ließen Domenico de Cupis und Philippe de la Chambre von nun an Martina Matt und Xaver Sinzinger nicht mehr aus den Augen. Sinzinger sprach mit der Galeristin am unteren Ende des Buffettischs, wo die Proseccoflaschen geöffnet in Tonkühlern bereitstanden. Er schien aufgeregt zu sein. Wie geplant, hielten die Kellner sich fern, sodass der Bierbrauer sich genötigt sah, selbst zu einer Flasche zu greifen und seiner Begleiterin und sich nachzuschenken. Als er sich abgewandt hatte, beeilte sich de la Chambre, die Flasche, die Sinzinger zurückgestellt hatte, zu entfernen. Er trug sie in eine Kammer unter der Treppe und deponierte sie in einem Wandschrank. Wenig später sah de Cupis, dass Xaver Sinzinger sein leeres Glas am Rand einer Treppenstufe abstellte und sich mit Liesel Ungureith unterhielt. Sofort nahm de Cupis es weg und trug es in die Küche. Dort steckte er es in einen frischen Gefrierbeutel und klemmte die Verschlussleiste zu. Mit einem Filzstift malte er ein S auf die Plastiktüte, legte sie vorsichtig in einem der Hängeschränke ab und kehrte zu den Gästen zurück. De la Chambre begegnete ihm an der Tür, auch er trug ein einzelnes Glas. Er behandelte es auf dieselbe Weise, schrieb auf den Gefrierbeutel ein M und legte ihn zu dem ersten.
»Memling!« Swoboda riss die Augen auf und erwachte. Für einen Moment wusste er nicht, wo er war. Er hatte noch das Gesicht aus dem Traum vor Augen: ein Christuskopf, unter dem Kinn die segnende Hand, Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger geschlossen, Ringfinger und kleiner Finger zur Handfläche eingebogen. So hatte der Mörder sein Opfer gesegnet. So sah die Jesushand auf dem Gemälde aus. Noch im Traum war Swoboda eingefallen, vom welchem Künstler das Bild stammte. Hans Memling: Segnender Christus . Er machte Licht. Eine Kammer. Sie roch nach Farben. Bei Lavrakis. Er nahm sein Telefon vom Nachttisch und schrieb eine SMS an Michaela Bossi. »Segnender Christus von Hans Memling, 15. Jh. Segnende Hand. Was für ein Segen ist das? Geste des Mörders.« Der Server bestätigte die Sendung um sieben Uhr zwölf. Swoboda stand auf und zog sich an. Wieder hatte sein Gedächtnis einen Beweis dafür geliefert, dass es bereit war zu arbeiten. Lag es daran, dass er in seinen alten Beruf zurückgekehrt war? Er dachte an seine Therapeutin, Doktor Sallwey, die ihm in der ersten Stunde erklärt hatte: »Bisher haben die Täter ihrem Leben einen Sinn gegeben. Sie haben nichts mehr mit ihnen zu tun. Darum verlieren sich die Gesichter in Ihrer Erinnerung. Ihr Gedächtnis weiß nicht, warum es die alte Nahrung noch wiederkäuen sollte.« Nun erhielt es offenbar neue Nahrung. Auf der Veranda vor der Küchentür des Hauses atmete er tief durch und versuchte, sich zu strecken. In der fahlen Morgendämmerung sah das Dorf noch einsamer, noch karger, noch ärmlicher aus. Sein Rücken tat weh, sein Genick knirschte, als er den Kopf in den Nacken legte und kreisen ließ. Seine Schultern und die Handgelenke schmerzten. Er verfluchte seine alten Glieder und hoffte, dass sein Körper ihm das nicht übel nahm. »Early bird, it’s sunday!« Lavrakis stand in der Tür der Küche und lachte. Sein Bauch schlappte über den Gummibund der hellgrauen Unterhose. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als auf die Polizei zu warten, die heute aus dem Kommissariat der Inselhauptstadt Limenas kommen würde. Irgendwann am Vormittag. Vielleicht. Genug Zeit, um noch ein paar Keilrahmen mit Leinwand zu bespannen und mit der gestern gekochten Rotockerfarbe zu grundieren, schlug Swoboda vor. Sein Malerkollege stimmte zu. Gestern Abend hatten die Beamten in der Polizeistation Limenaria, als sie von Lavrakis über den Toten im Beinhaus informiert worden waren, nur verlangt, dass nichts angerührt, nichts bewegt, nichts verändert werden sollte. Dieselben Anweisungen, die Swoboda während seines Berufslebens schon zigfach ausgegeben hatte. Ohne einsichtigen Grund misstraute er den griechischen Beamten. Sie würden ihm vermutlich nicht gestatten, selbst Untersuchungen vorzunehmen. Törring ließen sie vielleicht an die Leiche heran. Der war noch im Dienst. Aber er selbst? Sie kannten die Lage, in der sich Lavrakis befand,
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