Das Fest Der Fliegen
wussten, das er Polizeischutz abgelehnt hatte. Und nun, als der Anschlag passierte, besuchten ihn zwei deutsche Polizisten. Schwer, dabei an Zufall zu glauben. Er fragte Lavrakis nach Tesafilm. »Adhesive film? Transparent?« »Scotchfilm, you mean? Of course.« »And a Mörser? Mörser you know?« Lavrakis verzog sein Gesicht. »Merser?« Swoboda war sicher, dass ein Maler, der mit Naturpigmenten arbeitete, einen Mörser besaß. Er fand ihn, sauber und aufgeräumt unter dem Tellerregal der Küche. Lavrakis brachte ihm bei, dass der Steinpott englisch mortar hieß. Eine halbe Stunde bearbeitete Swoboda die Holzkohlenstücke, die er dem Ofen entnommen hatte, mit dem steinernen Pistill im Mörser, bis sie zu Puder pulverisiert waren. Dann verlangte er einen glatten weißen Malkarton.
Die Morgensonne überzog den Himmel mit Lichtdunst. Die Steinplatten am Boden schimmerten nass, die Luft roch nach Kiefern und Rosmarin. Im Licht des begonnenen Tags, das durch den Eingang des Beinhauses fiel, lagen die Gebeine noch bleicher vor den Eindringlingen als in der Nacht zuvor im Lichtkegel der Taschenlampe. Jetzt erst überblickte Swoboda die Menge der Ellen und Speichen und Schienbeine und Schädel, die aus alten Gräbern hierher gebracht worden waren. Wie Überreste eines großen Fressens lagen die Knochen herum. Swoboda fragte sich, ob dies die einzige Wahrheit nach dem Leben war. Sie näherten sich vorsichtig dem Leichnam von Gian Pietro Carafa. Ein paar spröde Armknochen brachen unter ihren Tritten. Carafa hatte nach dem letzten pfeifenden Kehllaut den Kopf nach hinten sinken lassen. Nun ruhte sein Hinterkopf auf der Stirn eines Totenschädels, als wollten die beiden durch ihre Hirnschalen hindurch in Verbindung treten. Das Gesicht war vom Schmerz verzerrt. Lavrakis, der noch nicht viele Leichen in seinem Leben gesehen hatte, blieb erstarrt stehen. Er kämpfte gegen aufkommende Übelkeit. Wie die meisten erwartete er, selige Ruhe in einem toten Gesicht zu finden. Swoboda kannte die Züge der Qual an denen, die gewaltsam zu Tode gekommen waren. Erlöst sahen nur wenige aus. Er kniete sich neben Carafa, entnahm dem Mörser etwas Kohlepulver und rieb den schwarzen Staub auf die rechte Innenhand des Toten. Dann gab Lavrakis ihm die breite Rolle Tesafilm und legte den Malkarton neben die Leiche. Swoboda blies die Fingerkuppen des Toten an, um überschüssigen Kohlestaub zu entfernen, und nahm die Fingerabdrücke. Auf jede Fingerkuppe legte er ein Stück des Klebefilms, strich mit dem Daumen darüber, löste den Streifen und klebte ihn auf den weißen Karton. Die Abdrücke der fünf rechten Fingerbeeren des Toten bildeten die erste Reihe, dann rieb der Kommissar Kohlestaub in die linke Hand des Toten, pustete den Überschuss an Pulver ab und wiederholte das Verfahren. Er sah Carafa ins Gesicht und befahl seinem Gedächtnis, sich dieses Bild aus Angst und Schmerz einzuprägen. »Ich werde dich nicht vergessen«, sagte er leise, »ich werde überhaupt kein Gesicht mehr vergessen, und dich mache ich zum ersten Kopf einer neuen Serie, ich werde dich niemals verlieren, du bleibst mir in Erinnerung, ich werde dich malen. Ich will wissen, wie du den Tod gesehen hast.« Lavrakis, der sich inzwischen sehr unwohl fühlte, hörte das Gemurmel und verstand kein Wort. Er brauchte frische Luft. »Finished?« »Ja«, sagte Swoboda und stand mühsam auf. Er zog sein Telefon aus der Hosentasche und machte zwei Fotos vom Gesicht des Toten, eines vom ganzen Körper. »Come on, let’s have breakfast with Anna in the tavern. I think she is ready with the bread.« Lavrakis drängte nach draußen. In Swobodas Hosentasche schnarrte und vibrierte das Telefon und zeigte den Eingang einer SMS an. Michaela Bossi war offenbar auch am Sonntagmorgen schon am Schreibtisch: »Hans Memling 1481 Segnender Christus Museum of Fine Arts, Boston. Sog. lateinischer Segen. Drei Finger = Dreifaltigkeit. Im Mittelalter und Renaiss. gebräuchlich. Abgeschafft.« Sie stolperten aus dem Beinhaus, Lavrakis voran über die klappernden Knochen, als sei er auf der Flucht. Bevor Swoboda ihn hindern konnte, griff er draußen nach der Gittertür und warf sie ins Schloss, als wollte er, dass niemand sie jemals mehr öffnen konnte. Swoboda dachte an die jetzt vielleicht unbrauchbaren Fingerabdrücke auf den Gitterstäben, aber er schwieg. Nebeneinander liefen sie zur Taverne. Dort roch es nach frischem Brot und nach Kaffee. Anna, die breithüftige Frau von Agnoulis, stand in
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