Das Fest Der Fliegen
Hauptstraße hinaufging. Plötzlich überlief ihn ein Schauder. Der Himmel schien weniger blau zu sein als zuvor. Auch die Fassaden der Häuser hatten ihre Farbe geändert. Eben noch war das Braun des Sandsteins vom Oktoberlicht zum warmen Rot hin aufgehellt worden, nun bekam es einen violetten Schimmer, dunkelte zusehends, und Schnaubert hätte schwören können, dass er sich unter der Hand kalt anfühlen würde. Er testete es nicht. Mit großem Abstand lief er hinter Burton die Hauptstraße in Richtung Prannburg hinauf. Der Ire würde weiter zum Galgenberg gehen und hinter dem Parktor die Auffahrt zur Villa betreten. Er selbst hatte es nicht so weit. Die Hedwigskirche lag gleich hinter dem Gymnasium am Ludwigsbühel. Als er sein Gotteshaus erreicht hatte und das Portal hinter sich schloss, atmete er auf. Der kühle Kirchenraum, dessen Streben nach Höhe sich in den spitz zulaufenden Bögen des Dachgewölbes vollendete, drückte die Himmelssehnsucht der Jahre aus, in denen die ursprüngliche Kirche erbaut worden war, von der Mitte des zwölften Jahrhunderts bis zum Ende des dreizehnten. Sie hatte die Zeiten durchdauert, sogar den Dreißigjährigen Krieg überstanden und war danach der Barockisierung anheimgefallen, die den Innenraum mit Wülsten und Knoten aus Stuck und Gold verunstaltet, später aber, weniger wuchtig und schon verspielt, vier schöne Altäre und eine Eichenholzkanzel hinterlassen hatte. Hier fühlte sich der Pfarrer sicher. Er fand die Maria mit der Keule in der Hand und dem rechten Fuß auf dem besiegten Satan beruhigend und behütend. Bald würde der Altar in einem Buch des Kunsthistoriker Leicester Burton verewigt sein, wodurch vielleicht zahlreiche Touristen auf die göttliche Siegerin über das Böse aufmerksam wurden. Den Hedwigsaltar hielt er für nicht so bedeutend. Das Bild war eine Kopie des Altargemäldes in der Jadwiga-Basilika von Trzebnica, die Reliquie ließ sich hinter der trüben Glaslupe im dicken Silbertopf nicht erkennen, und Schnaubert hatte sich noch immer nicht entschieden, ob er den Festtag der Heiligen, wie üblich, am 16. Oktober begehen sollte, der aber zugleich der Tag des heiligen Gallus war, oder am 17., wie er im Martyrologium Romanum stand. Heute entschied er das nicht. Er kniete vor der schlagkräftigen Muttergottes nieder und wollte zu ihr sprechen. Doch kein Gebet fiel ihm ein, das seiner Lage angemessen war. Ohne es recht zu wollen, sagte er: »Dulce cor Mariae, esto salus mea!« Diese Bitte um Rettung war eigentlich nur ein Stoßgebet und er fragte sich: Wovor sollte Marias Herz ihn bewahren? Er stand auf und sah sich in der leeren Kirche um. Durch die Chorfenster und ihre tiefblauen und blutroten Glasfiguren der Passionsgeschichte fiel ein seltsam gemischtes, graues Licht auf die Sandsteinplatten im Fußboden, unter denen Priester und Äbte begraben lagen. Vor seinen Augen schien die Kirche sich von einem Ort der Glaubensgewissheit und Zuversicht in einen fremden Raum zu verwandeln, einen Platz, von dem etwas anderes Besitz ergriff. Bogen sich die Säulen oben zusammen? Näherten sich im Kirchenschiff Boden und Decke einander an? Neigte die Orgel auf der Empore über dem Portal sich nach vorn? Er wandte sich zum Altar um, kniete nieder und sah zu Maria auf. Doch die Glasplatte vor ihrem Schrein spiegelte, sodass ihr Gesicht weggeblendet wurde. Allein der Drache unter ihrem Fuß war zu sehen und die Augen Luzifers schienen auf ihn herabzuglühen. Schnaubert stand hastig auf, stolperte, fing sich und lief, sich bekreuzigend, am Altar vorbei zur Sakristeitür.
IX In Gottes Hand
Leicester Burton trank seinen Bunnahabhain aus. Es war der zweite am Beginn der Nacht und eigentlich war jeder von beiden doppelt gewesen.
Confiteor. Heilige, vergebende und verzeihende, gnadenreiche Jungfrau! Warum hast Du mir nicht gesagt, dass Ranuccio gebeichtet hat, bevor er sich das Leben nahm? Bin ich Deines Vertrauens nicht mehr würdig? Meine Seele ist dunkel, denn ich habe gesündigt. Mater, peccavi! Aber ich wusste, dass der Kampf um die Befreiung der Welt aus den Fängen des Drachen schwer werden würde. Ich habe es meinen Brüdern gesagt: Keiner von uns geht aus diesem Kampf mit unbefleckten Händen hervor. Wir sind gekommen, das Schwert zu bringen, nicht den Ölzweig! Wir kämpfen ja nicht gegen irgendwelche Waldenser, Fraticellen, Hussiten, Joachimiten, Albigenser oder Lollarden, wir kämpfen nicht gegen Beginen und Begarden, wir stehen im Krieg gegen eine ganze, vom Satan
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