Das Fest Der Fliegen
der Akte Rosenkranzmorde tauchte mit Ferdinand Munkert alias Ranuccio Farnese das erste identifizierte Täterprofil auf. Sein Deckname war der eines Enkels von Papst Paul III., Kardinal von Santa Lucia in Messina, der nur kurz, von 1530 bis 1565, gelebt hatte. Tizian hatte ihn in Venedig als zwölf Jahre alten Cavaliere di Malta gemalt. Erst durch dieses Bild kam Swoboda darauf, was Munkert mit dem Namen Farnese zu tun hatte: Die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen. Wer immer ihn so genannt hatte, kannte das Bild. Dies war, wie Swoboda in der Lagebesprechung zur Akte Rosenkranzmorde seine kunstgeschichtliche Betrachtung schloss, vielleicht der beste Hinweis, den sie überhaupt in der Hand hatten: Es ging nicht nur um Marienfanatiker und ihre Nähe zum 16. Jahrhundert. Unter denen, die Decknamen und Mordaufträge zu vergeben hatten, musste sich ein Kunstkenner befinden. Das Tizianbild des jungen Ranuccio gehörte nicht zu den allgemein bekannten Werken des Malers. Es hing nicht im Louvre oder Prado, sondern als Bestandteil der Samuel H. Kress Collection in der Nationalgalerie von Washington. In der Nacht nach der Besprechung zog er sich in sein Atelier zurück. Frau Bossi und Georges Lecouteux, die sich entschlossen hatten, zwei Nächte im Hotel Korn zu bleiben, um am nächsten Abend die Vernissage zu Swobodas Ausstellung besuchen zu können, versuchten ihn und Martina zu überreden, im Da Ponte , einem italienischen Restaurant am Stadtufer der Mühr, schräg gegenüber der jenseits gelegenen alten Mühle, essen zu gehen. Doch Martina hatte noch Vorbereitungen in der Galerie zu erledigen, und Swoboda lehnte mit der Begründung ab, ein Bild für die Ausstellung sei noch nicht fertig. Lecouteux sah ihn ungläubig an, aber es war die Wahrheit. Er fand in seiner Kunstbibliothek zwei Bücher zu Tizian und im einen eine Abbildung des Gemäldes, das er suchte: Ranuccio Farnese . Im anderen war von dem Bild nur erwähnt, es sei das Geschenk eines Kardinals an die Mutter des Knaben gewesen. Swoboda betrachtete das Gesicht des Zwölfjährigen, der bereits zum Prior des Malteserordens ernannt worden war und offensichtlich zwischen Stolz und Ängstlichkeit schwankte. Tizian hatte ihn in rotem Seidenwams vor schwarzbraunem Hintergrund gemalt und in die sehr großen dunklen Augen, die noch einem Knaben gehörten, eine Ahnung von Erwachsensein gelegt. Der Mund war, vor allem des zurückweichenden kindlichen Kinns wegen, noch unentschlossen, eher tapfer als mutig. Swoboda verglich das Bild mit dem Foto des toten Ferdinand Munkert aus der Mahr, das durch digitale Bearbeitung den Ausdruck des Lebens zurückgewonnen hatte. Die Ähnlichkeit war in der Tat verblüffend. Hier wie dort der Ausdruck eines weichen Gesichts zwischen Fragen und Gehorsam. Als er die Kohlestudie auf Leinwand fertig gezeichnet, mit ein paar Lappenschlägen die schwarzen Linien wieder gebleicht und den schwarzen Staub entfernt hatte, entschied er sich, Tizians Hell-dunkel-Behandlung für das Porträt Ferdinand Munkerts zu übernehmen. Ebenso legte er Tizians Farbenskala auf der Palette neu an: Krapplack, Zinnober, Kadmiumorange, Indischgelb, Gebrannte Umbra und Vandyckbraun, für die er mit seiner Vorliebe für grün-blau-schwarze Töne brechen musste. Auch in dieser Nacht brachte Martina gegen zwei Uhr etwas zu essen. Gegen vier schien ihm das Bild fertig zu sein. »Es kommt nass in die Ausstellung, wird schon keiner anfassen«, sagte er zu Martina, bevor er einschlief.
Am dritten Tag nach dem Mord an Schnaubert brachten die ZN auf zweieinhalb Seiten Spekulationen über die Hintergründe, Aussagen von Kirchgängern, seine Predigten wurden zitiert, auf Hinweise durchsucht, man fahndete nach dunklen Stellen in seinem Leben, befragte den Bischof, stieß allseits nur auf Bestürzung. Niemand konstruierte einen Zusammenhang mit dem Toten aus der Mahr. Da sich das Fest der heiligen Hedwig näherte, fragten einige besorgt, wie denn nun die Gemeinde den Tag der Heiligen ohne Priester feiern sollte. Das Dekanat versprach, bis zum
16. Oktober für einen guten Hirten zu sorgen. In einem Vorbericht der Zeitung über die anstehende Ausstellungseröffnung in der Galerie am Neldaplatz wurde, in einer Kurzbiografie des Malers Alexander Swoboda, der nun als Sohn der Stadt galt, auf den Kommissar Bezug genommen, den man sich für die Aufklärung des Mordes an Pfarrer Schnaubert zurückwünsche. Der Artikel schloss mit der Bemerkung, Swobodas künstlerisches Talent, das man noch
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