Das Fest der Schlangen
Entführung, Erpressung, Mord – das ergibt keinen Sinn. Aber irgendwo gibt’s einen Grund.«
Degroot stand ebenfalls auf. Er war schlanker als Bingo und zwei Handbreit größer. Und er hatte noch alle seine Haare. »Ich werde mich umhören. Wenn wir davon ausgehen, dass da etwas faul ist, hat vielleicht jemand eine Idee.«
Eine Viertelstunde später war Bingo auf dem Interstate 95 unterwegs nach New London. Dort wollte er die gleichen Fragen einem Detective stellen, den er auch schon seit ungefähr zehn Jahren kannte: Kommt es bei euch vor, dass Obdachlose einfach endgültig verschwinden? Bingo kannte die Antworten schon, wie er auch gewusst hatte, was Degroot sagen würde. Was er brauchte, war Hilfe bei den Fragen.
Laut lief eine CD : Samuel Ramey sang die Pfeif-Arie aus Boitos Mephistofele – »Ich bin der Geist, der stets verneint …« –, die Arie, in der Mephistofele den Faust verlockt, seinen Horizont zu erweitern, seinen Gelüsten freien Lauf zu lassen und sich ein bisschen satanisches Vergnügen zu gönnen. Bingo liebte sämtliche Faust-Versionen: Berlioz, Boehmer, Boito, Busoni, Gounod, Lutz, Pousseur, Prokofjew, Schnittke, Spohr und Strawinsky. Als Polizist sah er sich selbst als einen Erforscher menschlicher Versuchungen. Was bringt einen Menschen dazu, auf der Suche nach Freuden, die er sich nicht leisten kann, das Gesetz zu brechen? Bingo stellte diese Frage neben seine andere Frage: Warum sollte Ronnie McBride verschwinden? Irgendwie gab es zwischen diesen beiden Fragen einen Kausalzusammenhang: Wenn dies, dann das. Er brauchte ihn nur zu finden.
Sobald Woody am Donnerstagmorgen seinen Durchsuchungsbeschluss in den Händen hielt, schnappte er sich Chief Bonaldo, Detective Gazzola und Officer Morelli und fuhr hinüber zu Benjamin Cloustons Haus in der Ballou Street. Bonaldo und Gazzola hatten eigentlich etwas anderes vorgehabt, und Morelli hatte gehofft, irgendwo ein Nickerchen halten zu können. Woody hatte sie, wie Bobby es nannte, mit »toten Augen« angestarrt. Diesen Blick bekam er immer, bevor er anfing loszubrüllen. In Woodys Augen hatte Clouston oberste Priorität, es sei denn, Fred Fucking Bonaldo wollte, dass Brewster explodierte wie ein verdammter Pickel am Arsch eines Teenagers.
»Na ja«, hatte Bonaldo gesagt, »wenn Sie es so ausdrücken wollen …« Dann hatte er noch eine Bemerkung über Woodys negative Einstellung gemacht, was ihm gleich den nächsten furchterregenden Blick eingebracht hatte.
Ein Schlosser öffnete Cloustons Haustür. Woody trat ein und schnupperte. Diele und Wohnzimmer waren erfüllt vom süßlichen Duft eines frisch gereinigten Motelzimmers. Auf dem Teppich sah man noch die Spuren des Staubsaugers, und alles war an seinem Platz, harmlos wie in einem Musterhaus für einen Markt mit geringer Nachfrage.
»Hier ist schon jemand durchgegangen«, sagte Woody, nachdem er sich das Erdgeschoss angesehen hatte.
»Kleider und andere Sachen sind noch hier«, sagte Bonaldo. »Sogar seine Zahnbürste.«
»Und was sagt Ihnen das?«
Bonaldo überlegte. »Jemand anders hat aufgeräumt?«
»Genau.«
Das Sechs-Zimmer-Haus war ordentlich und sparsam eingerichtet. An der Wand im Wohnzimmer hingen Fotos von Waldszenen. Die braune Ledercouch stand vor dem Flachbildschirm, der mit einer Bose-Anlage verbunden und durch einen beigefarbenen Teppich davon getrennt war. Das Bett war gemacht, das Geschirr gespült, alle Kleider hingen ordentlich im Schrank, und unter dem Bett lauerten keine Wollmäuse. Aus einem kleinen Arbeitszimmer schaute man in den Garten, und der Schreibtisch war leer bis auf Stifte, Papier und Büroklammern. Computerkabel waren vorhanden, aber kein Computer. In den beiden Schubfächern des Aktenschranks fanden sich lediglich Unterlagen zu Cloustons Toyota, zu dem Bose Lifestyle Home Entertainment System und zu dem 42 -Zoll-Sony-Plasma-Flatscreen-Fernseher sowie eine Mappe mit Hausgeräte-Garantien und eine mit der Aufschrift »Mein Trip nach Las Vegas«. Die Bücher waren lauter Bestseller des Techno-Spionage-Genres. Die DVD s waren Cary-Grant-Komödien, ein bisschen James Stewart und ein wenig Katherine Hepburn.
Woody rief Frank Montesano und sein Spurensicherungsteam an. »Die ganze Hütte muss nach Fingerabdrücken abgesucht werden. Alles, was ihr finden könnt.«
Woody, Bonaldo, Morelli und Detective Gazzola gingen hinaus, um zu warten. Gazzolas nikotinverklebte Lunge pfiff wie eine kaputte Ziehharmonika. Er steckte ein Nicorette-Kaugummi in den Mund
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