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Das Fest der Schlangen

Das Fest der Schlangen

Titel: Das Fest der Schlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Dobyns
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fing sie wieder an zu heulen.
    Woody wartete. Das war auch so etwas, das er nicht gern tat: Frauen über ihre Periode zu befragen. Seine Verlegenheit war ihm immer anzumerken, und vielleicht wurde er sogar rot. Er erinnerte sich, wie die Mädchen auf der Highschool einfach aufstehen und ungehindert das Klassenzimmer verlassen konnten. Manchmal hatte er genau gewusst, dass eine nur hinausging, um einen Joint oder eine Zigarette zu rauchen. Er hatte es immer unfair gefunden.
    Als Alice sich etwas beruhigt hatte, erkundigte Woody sich nach den Schlangen. Konnte sie schätzen, wie viele es gewesen waren? Wie viele hatte sie gesehen? Ihre Unterlippe zitterte. Zuerst waren es zehn, dann sank die Zahl. Zehn mehr als anderthalb Meter lange Schlangen hätten schließlich kaum in das Bettchen gepasst. Schon bei fünfen wäre es schwierig gewesen. Vielleicht vier, vielleicht drei. Vielleicht nur eine? Nein, es mussten mehr gewesen sein. Mehr als eine, aber weniger als zwei? Sie fing wieder an zu weinen.
    Während sie ihre Geschichte erzählte, blickte Schwester Spandex zu Woody auf, blickte weg, zog die Stirn kraus, schaute zur Decke, rieb sich die Nase, biss sich auf die Lippe, wischte sich über die Augen, schniefte, rang die Hände und sah kurz zu Bernie Wilcox hinüber. Woody war sicher, dass sie log. Es stand ihr wie mit Blockbuchstaben auf die Stirn geschrieben. Also stellte er noch ein paar Fragen. Wann war sie auf der Toilette gewesen? Hatte sie etwas gehört? Nein, na ja, vielleicht habe sie Schritte gehört, aber sicher sei sie nicht. Hatte sie jemanden gesehen? Eine andere Schwester? Jemanden vom Personal? Nein, niemanden. Sei sie sicher, dass sie nur fünf Minuten weg gewesen war? Oder waren es vielleicht doch ein bisschen mehr?
    Als ersichtlich wurde, dass Woody an ihrer Aussage zweifelte, fing Alice wieder an zu weinen und von den Schlangen zu reden – wie sie sich aufgebäumt hatten und wie sie dachte, sie hätten das Baby gefressen. Dann begann sie am ganzen Körper zu zittern.
    Woody gab vorläufig auf. Sie konnte das Baby auch selbst geraubt haben. Sie hatte eine erstklassige Gelegenheit gehabt, und es war klar, dass sie in irgendeinem Punkt log.
    Als er hinausging, folgte Bernie Wilcox ihm. Er war keine drei Schritte weit gegangen, da packte sie seinen Arm und hielt ihn auf. »Die Schlampe hat nicht ihre Tage. Ihre Periode war vor zwei Wochen, und sie hat uns allen davon erzählt, wie immer.«
    Woody drehte sich überrascht um, und Bernie zwinkerte ihm zu.
    In den nächsten paar Stunden sprach Woody mit der Krankenhauschefin, mit Ärzten, Schwestern, Hauswirtschaftspersonal und Leuten, die zum Zeitpunkt des Geschehens im Haus gewesen waren. Auch andere Polizisten sprachen mit diesen Leuten, und Woody beteiligte sich mit ein paar Fragen. In allen Fällen erzählten ihm die Betreffenden nichts, was er nicht schon wusste, oder nichts, was er gebrauchen konnte. Dazu kam bei allen die Angst, irgendetwas könnte dazu führen, dass sie ihren Job riskierten. Sie waren vorsichtig, sie erklärten, nichts zu wissen, und sie warfen besorgte Blicke auf den Fernseh-Übertragungswagen aus Providence, der jetzt draußen parkte. Sie versprachen zu tun, »was immer nötig« sei, um das Baby zurückzubringen. Ihr Zögern war verständlich, aber es gefiel Woody nicht.
    Bürgermeister Grantland Hobart, der sein Amt hauptsächlich ehrenhalber ausführte, nahm Woody beiseite. »Besteht die Chance, die Sache aus der Presse rauszuhalten?« Er war Immobilienunternehmer, und wenn Brewster als Stadt bekannt würde, in der scheußliche Dinge passierten, konnte ihn das ein Vermögen kosten. Woody deutete mit dem Kopf auf den Übertragungswagen.
    Der Bürgermeister zupfte an seiner Unterlippe. »Das hatte ich befürchtet.«
    Woody fiel auf, dass niemand seine Sorge um das verschwundene Baby zum Ausdruck brachte. Oh, ein paar sagten: »Wie schrecklich, wie schrecklich«, aber das war reine Formsache, und man musste es erledigen, bevor man sich wieder dem Thema der eigenen Unschuld zuwandte. Genauer gesagt, ging es nicht um Schuld oder Unschuld – die Leute achteten darauf, dass ihr Lebenslauf sauber blieb. Woody fragte sich, ob er allzu zynisch war, aber er war müde, und vom langen Herumstehen tat ihm der Rücken weh.
    Tatsache war, dass ein nicht mal vierundzwanzig Stunden altes männliches Baby verschwunden war. Zwischen den Sorgen um ihre Jobs und den verdammten Schlangen war es, als sei der Kleine gleich zweimal verschwunden: einmal

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