Das Fest der Schlangen
aus und achtete darauf, die Wagentür nicht zuzuschlagen. Die Rasenflächen in der Nähe waren von weißem Reif gesprenkelt, die Laubfärbung hatte ihren Höhepunkt überschritten, und die Blätter waren gelblich oder braun. Jill wollte nicht sein, wo sie war, aber ihr Chefredakteur hatte sie angerufen, und wenn sie ihren Job behalten wollte, blieb ihr keine Wahl. Er hatte ihr eine Zimmernummer und ein paar Anweisungen gegeben und hinzugefügt: »Vergessen Sie nicht, ich will Kunst.«
Jill war dreißig und alleinerziehende Mutter. Zum Glück wohnten ihre Eltern nur zwei Meilen weit von ihrer Wohnung in Wakefield entfernt, und deshalb hatte sie Luke dort abliefern können. Er war sechs. Jill hatte in den Schulen der Umgebung Vertretungsunterricht gegeben, bevor sich zu Beginn des Sommers der Job bei der Brewster Times & Advertiser aufgetan hatte. Kein perfekter Job, jedoch besser als Vertretungsunterricht. Jill war nicht sehr groß, aber athletisch und hatte auf der Highschool und auf dem College Hockey gespielt. Jetzt arbeitete sie manchmal als Coach, und sie spielte immer noch jedes Mädchen in der Mannschaft an die Wand. Doch sie hatte genug vom Sport, genug von Schulen, und sie hoffte, der Job bei der Brewster Times & Advertiser würde ihr den Weg zu einer größeren Zeitung eröffnen, vielleicht zum Providence Journal . Eigentlich würde ihr alles gefallen, was mit Schreiben zu tun hätte.
Jill hatte glattes blondes Haar und einen schräg geschnittenen Bubikopf, von dem sie glaubte, er mache ihr rundes Gesicht schmaler. Ihre etwas stumpfe Nase, sagte ihr Vater gern, sah aus wie die von Sokrates, und sie hatte hübsche Lippen und Zähne. Sie verbrachte nicht viel Zeit vor dem Spiegel. »Es ist, wie es ist«, sagte sie immer. Aber sie war stolz auf ihre sportlichen Fähigkeiten und hatte nichts gegen ihre kräftigen Waden, die nicht nur vom Laufen, sondern vom Laufen auf dem Spielfeld kamen, vom Stoppen, Drehen, Hakenschlagen. Meistens trug sie sowieso Jeans, auch jetzt: Jeans, einen dunklen Pullover, eine schwarze Lederjacke und Laufschuhe. Im letzten Augenblick entschied sie, die Jacke im Auto zu lassen.
Sie ging direkt zum Haupteingang, mit schnellen Schritten, als hätte sie ein Ziel im Sinn, das ebenso dringend auf sie wartete, wie sie es erreichen wollte. Sie rauschte an dem Polizisten im Eingang vorbei, und ihr kurzes Kopfnicken sagte: Wenn ich es nicht so eilig hätte, würde ich gern auf ein Schwätzchen stehen bleiben. »Niemals unsicher aussehen«, hatte ihr Boss ihr eingeschärft. Vor ihr an der Information saß eine freiwillige Helferin, eine ältere Frau, die lächelnd aufblickte.
Jill lächelte zurück und wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger hin und her. »Ich komme zu spät, ich komme zu spät.« Sie wandte sich nach rechts und zur Treppe.
Es gefiel ihr, zwei Treppen hinaufzulaufen, ohne außer Atem zu geraten. Ihre Eitelkeit brauchte einen Trost, wenn man bedachte, dass sie sich auf eine Weise benahm, die sie nicht mochte. Sieh es nur ein , sagte sie sich, ich benehme mich schlecht . Sie öffnete die Tür zum Korridor und bog nach links. Mehrere Zimmer wurden geputzt, eine Schwester und ein Arzt besprachen ein Krankenblatt, und ein Mann im Rollstuhl starrte zur Decke. Jill rauschte an ihnen vorbei und bog am Ende des Korridors nach rechts. Das Zimmer, zu dem sie wollte – 314 – lag auf halber Strecke. Vor der Tür stand ein Polizist. Jill ging eilig weiter und betrat Zimmer 316 . Ein älterer Mann lag im Bett und schlief. Auf dem ausschwenkbaren Tisch stand ein Tablett mit einem unberührten Frühstück. Jill nahm es, verließ das Zimmer und wandte sich nach rechts.
Der Polizist vor Zimmer 314 wirkte schlecht gelaunt und schläfrig. Jill lächelte wieder. »Ich bringe Ihnen ein Frühstück, sobald ich das hier hineingebracht habe. Sie sehen aus, als könnten Sie eine Tasse Kaffee brauchen.« Als sie an ihm vorbeiging, sah sie, dass er versuchte zurückzulächeln: Ein rudimentäres Anfängerlächeln verzog sein Gesicht. Vielleicht konnte sie ihm nachher wirklich eine Tasse Kaffee bringen.
Peggy Summers lag im Bett und starrte sie mit unfreundlichem Gesicht an – nicht misstrauisch, nur abweisend. Sie war sechzehn oder siebzehn und hatte strähniges blondes Haar und ein schmales Gesicht. Ihr Mund stand ein wenig offen, und die beiden mittleren Schneidezähne sahen aus wie die eines Kaninchens. Sie hatte einen weißen Plastiklöffel in den Händen, den sie mit lautem Knacken in kleine
Weitere Kostenlose Bücher