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Das Fest der Schlangen

Das Fest der Schlangen

Titel: Das Fest der Schlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Dobyns
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strich ihr über die Stirn und machte beruhigende Geräusche an ihrem Ohr. Die Schwester war Bernie Wilcox, und sie arbeitete seit dreißig Jahren in diesem Beruf. Wenn sie nicht auf einer Teilzeitstelle bestanden hätte, wäre sie inzwischen Oberschwester oder Pflegedienstleiterin gewesen, und zwar nicht in einer Kuhkaffklinik wie dem Morgan Memorial, sondern irgendwo in Providence oder in Boston. Das sagte nicht sie, das sagten andere Leute. Alle, mit denen sie zusammenarbeitete, meinten, sie hätte jeden Job haben können, den sie haben wollte. So gut war sie. Vor Jahren hatte sie auch ein paar solche Jobs gehabt, aber heute liebte sie ihren Webstuhl und ihre dreißig Schafe genauso wie die Arbeit als Krankenschwester. Deshalb teilte sie ihre Zeit auf.
    Woody Potter war Bernie noch nie begegnet, doch ihr ruhiges Einfühlungsvermögen fiel ihm gleich auf. Wenn er nicht so viel um die Ohren gehabt hätte, wäre ihm vielleicht in den Sinn gekommen, dass dieses ruhige Einfühlungsvermögen ein professionelles Hilfsmittel war, das die Arbeit reibungsloser vonstatten gehen ließ. Das bedeutete nicht, dass Bernie alles andere als ruhig und einfühlsam war, aber für Schwester Spandex hatte sie wenig übrig. Sie wollte nur verhindern, dass Schwester Spandex kreischend durch das Krankenhaus rannte, denn Szenen zu machen und Anfälle zu bekommen, war Schwester Spandex’ Hauptbeschäftigung. Das, und sich flachlegen zu lassen.
    Woody wusste das alles nicht, kannte jedoch den Namen »Schwester Spandex« und sah, dass ihre Pflegerinnenkleidung mit diversen Abnähern und Änderungen versehen worden war, um ihre Figur zu betonen. Mit ihren ungefähr fünfunddreißig Jahren war sie auf dem Scheitelpunkt zwischen überreifer Traube und abgefallenem Pfirsich. Fallobst, sagte man wohl. Dann war da das Make-up. Eyeliner und Lidschatten waren auf ihren Wangen verteilt, wie der Mississippi sich über den Mittelwesten verteilt.
    Woody blieb am Fußende des Bettes stehen und bemühte sich, Bernies ruhiges Einfühlungsvermögen zu imitieren. Das fiel ihm nicht leicht – nicht, weil er kein Einfühlungsvermögen besaß, sondern weil Ausdruckslosigkeit und diverse Varianten der Wut die einzigen mimischen Möglichkeiten waren, die er gut beherrschte. Oder, wie Susie neulich geschrien hatte: »Du siehst nur glücklich aus, wenn du mit dem Hund spielst!«
    Er beugte sich vor. »Sie haben einen furchtbaren Schock erlitten.«
    Obwohl er, wie er fand, einen melodiösen Flüsterton angeschlagen hatte, reagierte Alice Alessio mit lautem Heulen. Bernie sah ihn vorwurfsvoll an. Alice warf sich auf dem Bett hin und her, und Bernie musste nach ihrem Arm greifen, damit sie nicht herausfiel. Woody senkte den Kopf und faltete die Hände vor sich, wodurch er ein bisschen priesterhaft aussah. Hysterie konnte er nicht leiden, weil er ihren Sinn nicht einsah. Was ihm im Leben gefiel, war eine ungerührte Liebenswürdigkeit mit einem Hauch von ironischem Humor, ein entspanntes Geplänkel unter Männern, bei dem er seine Gefühle nicht zu erklären brauchte. Männer mochten sich Sorgen machen, sie mochten fluchen oder weinen, aber sie wurden nicht hysterisch. Was hatte die Aufregung für einen Sinn? Empfindsamkeit auf der einen Seite, Drecksäcke auf der anderen – man wanderte wirklich auf einem schmalen Grat durchs Leben.
    Nach einigen Augenblicken fand Schwester Spandex zu einer Art von nervöser Wachsamkeit, und Woody konnte sie fragen, was passiert war, worauf sie beinahe wieder von Neuem anfing. Mit viel Stocken und Stammeln gelang es ihr, die nötigen Worte für ihre Geschichte zu finden. Sie sei bis gegen 2 Uhr 15 im Säuglingszimmer gewesen, die meiste Zeit an ihrem Tisch, aber auch immer wieder bei den Babys, doch es sei ihr schrecklich schwergefallen, weil sie von Krämpfen zerrissen worden sei. Sie hätte jemanden rufen sollen, das wusste sie, aber stattdessen sei sie den Flur hinunter zur Toilette gelaufen, wo die Krämpfe sie erneut überfallen hätten. »So schlimm, dass ich mit den Zähnen geklappert habe«, berichtete sie. Nach fünf Minuten, vielleicht waren es auch zehn, sei sie wieder ins Säuglingszimmer zurückgekehrt – zurückgetaumelt, um die Wahrheit zu sagen –, und sofort habe sie gesehen, dass in Baby Summers’ Bettchen etwas nicht stimmte. Er habe unter seiner kleinen Decke gezappelt, als bekomme er keine Luft und wolle sich befreien. Sie sei zum Bettchen gestürzt und habe die Decke weggerissen, und da … An dieser Stelle

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