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Das Fest der Schlangen

Das Fest der Schlangen

Titel: Das Fest der Schlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Dobyns
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Carls Lippen waren zu einem Grinsen hochgesteckt. Er trug Lippenstift und Rouge, und seine Augen waren offen. Er sah vergnügt aus, mit Wimperntusche und Lidschatten. Irgendwie kokett. Bobby ließ den Deckel fallen und wich zurück. Sein Licht ging aus, und er drückte es wieder an. Noch einmal musste er sich zusammenreißen, um nicht auszurasten.
    Er klappte den Deckel wieder auf und hockte sich hin. Carl war geschminkt wie eine Transe. Es sah aus, als wäre jemand richtig sauer auf ihn gewesen, und dieser Jemand hatte einen Witz aus Carl gemacht, eine Kreuzung aus Bozo, dem Clown, und Mae West. Bobby klappte den Deckel herunter, ging zur Tür und hämmerte dagegen. Dann legte er ein Ohr an den Stahl. Das Tosen der Ventilatoren übertönte alles andere, aber ihm war, als hörte er Musik. Ein Bass dröhnte. Er hämmerte noch ein Weilchen an die Tür und gab dann auf, wenigstens vorläufig. Vielleicht sollte er sich lieber die anderen Särge ansehen. Er brauchte eine Minute, um den nötigen Mut dazu aufzubringen.
    In dem ersten lag eine alte Frau. Bobby musste an das denken, was Maud Lord über die jüngsten Todesfälle im Ocean Breezes gesagt hatte. Er hatte den Sarg ungefähr zwei Drittel herausgezogen und schob ihn jetzt zurück.
    Er zog den zweiten Sarg um ein Drittel heraus und hob den Deckel. Das Licht seiner kleinen Lampe fiel auf einen schwarzen Stiefel. Bobby biss die Zähne zusammen. Er kannte diesen Stiefel – besser gesagt, er kannte solche Stiefel. Er hatte sie als uniformierter Trooper jahrelang selbst getragen. Was da im Sarg lag, wollte er nicht sehen, aber ein alter Mann war es nicht, das wusste er. Hör auf zu winseln , befahl er sich und zog den Sarg ganz heraus. Er fiel schwer auf den Boden, landete schief, und der Deckel flog ab. Im Sarg lag Rodger Legros. Er hatte ein rundes Loch in der Stirn. Aber das war nicht alles. Sein rechtes Bein fehlte. Es war an der Hüfte amputiert worden.
    Bobby ging zur Tür und lehnte sich an. Was hatte Legros hier gewollt? Bobby wollte nicht weitermachen. Es lohnte sich nicht. Legros war seit sechs Jahren Trooper gewesen. Bobby hatte bei ihm zu Hause Spaghetti gegessen. Er hatte mit Legros’ Kindern gespielt. Wieder musste er sich selbst anschreien. Du sentimentales Arschloch! Jetzt schrie er wirklich laut, lauter noch als die Ventilatoren. Er schrie, bis ihm der Hals wehtat. Wenn jemand mich hier hört , dachte er, hält er mich für verrückt .
    Im Lauf der nächsten Viertelstunde zog Bobby noch fünf weitere Särge aus dem Regal. Er warf einen Blick hinein und schob sie dann gegen die hintere Wand. Alle enthielten alte Leute, denen Körperteile fehlten – Beine, Arme, innere Organe. Bobbys Wut war beinahe groß genug, um alle anderen Regungen beiseite zu fegen, aber die Angst war noch da und nagte an ihm. Er zog den letzten Sarg herunter, den schwersten. Krachend landete er auf dem Boden, und der Deckel flog herunter.
    Bingo Schwartz hatte die Hände auf der Brust gefaltet. Seine Augen waren halb offen. Er hatte ein Einschussloch in der Stirn. Bobby fiel neben ihm auf die Knie. Dass er weinte, merkte er erst, als er die Tränen kalt auf den Wangen fühlte. Er streckte die Hand aus und drückte Bingo die Augen zu. Bobby kannte Bingo, seit er Trooper geworden war. Er hatte alles Mögliche von ihm gelernt. Er hatte sich über ihn lustig gemacht, hatte Witze über sein Gebrumm gerissen. Dieser ganze Scheiß-Opernkram. Sie waren keine Freunde, aber sie gingen freundlich miteinander um. Teils bedauerte Bobby jetzt, dass sie nicht doch Freunde gewesen waren, und teils bedauerte er, dass er Bingo jemals kennengelernt hatte. Vielleicht wäre es leichter, wenn Bingo ein Fremder gewesen wäre.
    Bobby starrte ihn an, bis ihm die Knie wehtaten und die Kälte sich tief in seinen Magen grub. Dann ging er wieder zur Tür und hämmerte dagegen.
    Laura Bonaldo wusste nicht, wann Baldo sich aus dem Haus geschlichen hatte. Er hatte sich als Vampir verkleidet, mit einem schwarzen Umhang und einer über den Kopf gestülpten Vampirmaske mit langen schwarzen Haaren, blutunterlaufenen Augen und langen Eckzähnen. Er hatte es zur Halloween-Party in St. John’s angehabt, und Father Pete hatte ihn gezwungen, es auszuziehen, weil es den kleinen Kindern Angst einjagte. Laura ging hinunter ins Spielzimmer. Hercel und Tig saßen noch mit dem Hund zusammen. Lucy schaute sich die DVD von Sound of Music an. Julie Andrews sang von all ihren Sorgen und davon, Angst zu haben. »Kinder, habt ihr

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