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Das Fest der Schlangen

Das Fest der Schlangen

Titel: Das Fest der Schlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Dobyns
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Augenblick, in dem Woody beinahe umgekehrt und zu Dr. Joyce Fullers Wohnung in Narragansett gefahren wäre. Gestern Abend hatte er ihr geholfen, heute könnte sie ihm helfen, auch wenn er kein Gespräch suchte, sondern nur zu ihr ins Bett wollte. Es ging ihm auch nicht speziell um Dr. Fuller, sondern um die Umarmung eines anderen Körpers, und Dr. Fuller war diejenige, bei der er sich die größten Chancen ausrechnete. Hauptsächlich war es seine Selbstdisziplin, die ihn unter widrigen Umständen zusammenhielt. Jetzt war sie geschwächt. Ihm lag nicht nur eine Sache auf der Seele, sondern eine ganze Sammlung: Susies Weggang, das unerklärlicherweise verschwundene Baby und der Mord an Ernest Hartmann, die vermisste Schwester Spandex, Todd Chmielnickis beunruhigende Bemerkungen sowie der heikle Zustand seiner eigenen Emotionen und Launen. Er hatte das Gefühl, wenn er sich an einem warmen Frauenkörper festhalten könnte, würde ihm das vielleicht helfen. Fast jeder Frauenkörper hätte in dieser Hinsicht einen gewaltigen Vorzug gegenüber Ajax, der spürte, dass etwas nicht in Ordnung war und sich deshalb dauernd über die Mittelkonsole herüberlehnte, um ihm das Gesicht zu lecken.
    Heute Nachmittag hatte Woody Schwester Asherah MacDonald kennengelernt, die im You-You Unterricht in Meditation und ganzheitlicher Gesundheit erteilte. Sie war eine achtundfünfzigjährige, rundliche Lesbe in einem knöchellangen blauen Kleid, die ihr langes graues Haar zum Pferdeschwanz gebunden trug. Woody wurde klar, dass er sie schon früher gesehen hatte – besser gesagt, ihr Auto, einen hellblauen Prius mit ungefähr zwanzig Stickern: DICKE LEUTE SIND SCHWERER ZU KIDNAPPEN ; GOTT KOMMT – UND SIE IST WÜTEND ; MEIN ZWEITFAHRZEUG IST EIN BESEN ; EIN TAG OHNE FEEN IST EIN TAG OHNE SONNENSCHEIN ; BAUMUMARMENDE ERDANBETERIN und WIR SIND ÜBERALL .
    Mit ihrem runden, strahlenden Gesicht sah sie geradezu militant gütig aus, fand Woody, doch wie tief das reichte, war nicht zu sagen. Sie wohnte mit ihrer Partnerin Schwester Isis in einem alten Farmhaus am Stadtrand. An diesem Nachmittag hatte sie Woody scheinbar entzückt begrüßt, aber er vermutete, dass sie jeden so begrüßte. Die Schwierigkeit beim Zuhören bestand für ihn darin, dass er achtgeben musste, ihre Worte nicht durch den Filter seines Zynismus laufen zu lassen.
    Sie gehörte zu einem Zirkel von dreizehn Frauen, der sich zu den acht Sabbaten mit anderen Zirkeln traf – zur Sonnenwende, zur Tag-und-Nacht-Gleiche, am Ersten Mai, an Halloween und am Ersten August sowie am Groundhog Day, auch Lichtmess genannt. Dazu kamen die Hexensabbate, die jeweils bei Vollmond stattfanden. Wiccaner waren anscheinend große Partyfreunde, tanzten und sangen viel und verteilten gute Zaubersprüche. Wie Schwester Asherah ihre Zusammenkünfte beschrieb, klang es nach einem unschuldigen Vergnügen und ein bisschen langweilig. Auch sie sprach von der ewigen Wiederkehr und dem Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt. Woody wusste nicht, ob das Ganze eine Lesbenveranstaltung war, und er wusste auch nicht, wie er sie danach fragen sollte. Was das Gestaltwandeln anging, so habe sie gehört, dass es vorkomme, aber ihr eigener Zirkel sei auf diesem Gebiet nicht erfolgreich gewesen. Über die Entführung des Babys und den Mord an Hartmann sei sie entsetzt, sagte Schwester Asherah. Vielleicht stimmte das. Von Satanisten in Rhode Island habe sie gehört, sie kenne aber keine und sei auch nicht daran interessiert, welche kennenzulernen. Wiccaner verurteilten Selbstsucht und Ausschweifung und träten genau wie Christen für Wechselseitigkeit ein: Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst. Und schließlich gab sie ihm die Namen mehrerer anderer Wiccaner. Woody sagte, er werde von sich hören lassen.
    Die einzige Verbindung zu Wiccanern, dachte Woody, als er jetzt nach Hause fuhr, war die Münze. Hartmann hatte sie in seinem Bostoner Büro einem anderen Detektiv gezeigt und gesagt, sie habe etwas mit Gräbern zu tun, vielleicht mit Indianergräbern, aber der Mann hatte kaum zugehört. Woody hoffte, er könne die Existenz der Münze geheim halten. Wenn er Schlangen, Entführungen und Skalpierungen um das Thema Hexen bereicherte, würden die Pressehubschrauber doppelt und dreifach zurückkommen.
    Um Viertel nach zwölf kam er nach Hause. Er fütterte die Tiere und kippte halb ausgezogen ins Bett. Die ganze Nacht, so schien es, träumte er, in der Abenddämmerung durch einen Wald zu fliehen.

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