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Das Fest der Schlangen

Das Fest der Schlangen

Titel: Das Fest der Schlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Dobyns
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etwas sagen, schüttelte dann aber nur den Kopf.
    »Wissen Sie, wo sie ist?«
    »Ja, ehrlich gesagt, das weiß ich. Wahrscheinlich sitzt sie in diesem Moment in meinem Wohnzimmer und weint sich die Augen aus.«

9
    Für eine Frau von fünfundneunzig Jahren war Maud Lord außergewöhnlich gut in Form. Oder, wie sie es ausdrückte, sie hatte die Figur eines Mädchens von siebzig. Drei Männer hatte sie begraben, und sie tickte immer noch. Zurzeit war sie solo, aber wenn sich die Gelegenheit zu einer Liebschaft noch einmal geboten hätte, wäre sie gern bereit gewesen, auch Ehemann Nummer vier zu begraben. Sie hatte drei Kinder, neun Enkel, zweiundzwanzig Urenkel und bis jetzt fünf Ururenkel.
    Alle diese Erfolge schrieb Maud ihrem Spaziergang um den Block zu.
    Sie hatte eine kleine Wohnung im Bereich für betreutes Wohnen im Ocean Breezes in der Oak Street. Zehn Jahre zuvor hatte sie noch ein eigenes Haus gehabt, ein großes Kolonialhaus, doch das hatte Kinder, Enkel und Urenkel in Versuchung geführt. Alle lebten im South County, und alle wollten Dinge von ihr. Der Umstand, dass Maud in einem Zwölf-Zimmer-Haus wohnte, weckte häusliche Begehrlichkeiten. Wollte sie diese alten Möbel – kostbare Antiquitäten – nicht endlich mal loswerden? Hätte sie was dagegen, wenn Hank oder Tom oder Sarah oder Betty ein paar Kleinigkeiten in einem ihrer unbenutzten Zimmer einlagerten – auf dem Speicher oder in der Garage, aber nicht im Keller, denn der war zu feucht?
    Solche Vorschläge oder Ersuchen kamen fast jede Woche, und wenn Maud sie zurückwies, kam das bei ihrer liebenden Familie nicht gut an. Sie bekamen betrübte, ja bösartige Mienen. Little Bill, ihr Lieblingsurenkel, behauptete, sie habe ihn nicht mehr lieb. Der Malteser ihres Enkels, Mr. So-Soft, knurrte sie an.
    Maud gab auf. Verkaufte das Haus, verkaufte die meisten der Antiquitäten und legte den größten Teil des Geldes in Treuhandfonds für das Collegestudium ihrer Ururenkel an, die noch klein genug waren, um Manieren zu lernen.
    Tatsächlich hatten die Spaziergänge lange vor ihrem Umzug ins Ocean Breezes angefangen. Oft hatte sie im Laufe ihrer drei Ehen das machtvolle Bedürfnis überkommen, einfach hinauszugehen und zu wandern. Es hatte sie auf den Appalachian Trail geführt, in die Schweizer Alpen, zu den norwegischen Fjorden und quer durch Patagonien. Jetzt beschränkte sie sich darauf, um den Block zu gehen, mitunter mehr als einmal.
    Von dort, wo sie wohnte, standen ihr mehrere Wege zur Verfügung, je nachdem, ob sie nach links, nach rechts oder geradeaus ging. An diesem speziellen Samstagmorgen gegen Ende Oktober entschied sie sich dafür, nach links zu gehen – eine einfache Entscheidung, die ihr Leben veränderte.
    Maud war keine Frühaufsteherin mehr – was hätte das auch für einen Sinn? –, und es war kurz vor zehn, als sie ihre Wohnung im Ocean Breezes verließ. An Regentagen oder im Winter, wenn alles vereist war, nahm sie ihren Stock mit, denn es gefiel ihr, den Zustand der Selbstständigkeit auf alle Bereiche auszudehnen, doch da an diesem milden Herbstmorgen die Sonne hell am Himmel stand, ließ sie den Stock zu Hause.
    Sie war dürr, wie man es erwarten kann, und relativ groß, wenn auch fast zehn Zentimeter kleiner, als sie mit fünfzig gewesen war. Zum Lesen benötigte sie eine Brille, aber sonst nicht, und sie brauchte ihr dichtes weißes Haar nicht aufzupolstern und fluffig zu föhnen wie ein paar ihrer Altersgenossinnen im Ocean Breezes. Sie bildete sich ein, gerade und aufrecht wie eine Eiche zu sein, wenn das auch nicht mehr der Fall war. Dennoch, die leichte Krümmung in ihrem Rücken war nicht schlimmer, als sie es bei einer Siebzigjährigen gewesen wäre. Sie hatte scharfe blaue Augen, und sie sah alles. Aber sie war kein Klatschweib. Später behauptete sie, die Luft habe eine ominöse Beschaffenheit gehabt, die sie nicht recht in Worte fassen könne, doch das sagte sie zweifellos der besseren Wirkung halber.
    An der Ecke der Lark Street wandte Maud sich wieder nach links. Sie sah nur wenig Verkehr – einen Tanklaster, einen UPS -Lieferwagen, Father Pete in seinem Buick auf dem Weg zum Brewster Golf Club, um vor dem Lunch noch neun Löcher zu spielen. Wenn sie Lust hatte, konnte Maud ziemlich flott gehen, aber es gefiel ihr, den Unterschied von einem Tag zum nächsten zu erleben, die Gärten und die wechselnden Farben des Laubes, zu beobachten, was die Vögel taten und welche noch da waren, wer seine Fenster putzte, wer

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