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Das Fest der Schlangen

Das Fest der Schlangen

Titel: Das Fest der Schlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Dobyns
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eine Menge Post bekam und wer wenig. So sah sie sich als eine, die diesen Block las, wie man ein Buch lesen mochte.
    Weil es an diesem Samstagmorgen warm war und sie ihre bequemen braunen Oxfordschuhe trug, beschloss sie, in ein – relativ gesehen – neues Territorium vorzudringen, und als sie an der Ecke der Hope Street angekommen war, bog sie nach rechts, was ihren Spaziergang um einen Block erweiterte. Sie betrachtete diesen Block als ein neueres Viertel. Maud war in Brewster zur Welt gekommen, und sie konnte sich erinnern, wie diese Häuser in den dreißiger Jahren gebaut worden waren, sah noch die Maultiere vor sich, die benutzt wurden, um die Fundamente zu legen. Davor hatte das Land zu George Flockers Farm gehört, und das Farmhaus der Flockers, ein Backsteinbau im Kolonialstil, stand heute in der Mitte des Blocks, umgeben von Cape-Cod-Häusern und Bungalows.
    Sie bewegte sich gelassen voran – eine alte Schnüfflerin, sagten die Leute manchmal. An manchen Tagen traf sie vielleicht andere Fußgänger und blieb stehen, um mit ihnen zu plaudern, doch das kam selten vor. Man sollte meinen, auch andere Bewohner vom Ocean Breezes gingen spazieren, aber sie saßen alle meistens vor dem Fernseher, oder sie plauderten und tranken koffeinfreien Kaffee oder nahmen an der mittäglichen Singrunde teil. Maud war der Ansicht, dies führe – relativ gesehen – zu einem frühen Tod. Weiß Gott, in den letzten Monaten waren die Leute umgefallen wie die Fliegen, sogar ein paar Freundinnen von ihr, und dabei war noch nicht mal Winter.
    Ein Haus hatte rote Vorhänge, und im Fenster hingen funkelnde Kristalle. Vor einem anderen musste das Laub zusammengeharkt werden. Bei einem dritten lag ein halbes Dutzend Ausgaben der Brewster Times & Advertiser verstreut auf der Veranda; offenbar waren die Leute verreist. Vor dem vierten hing etwas Merkwürdiges an einem Wacholder, so merkwürdig, dass Maud wie angewurzelt stehen blieb. So merkwürdig, dass sie – was sie sonst niemals tat – den Weg durch den Vorgarten hinaufging, um besser sehen zu können. Es baumelte dicht am Stamm, großenteils verdeckt von Zweigen, und es war grau. Maud schaute genauer hin, und als die Erkenntnis aufdämmerte, wurde ihr Rücken, den sie beim Vorbeugen gekrümmt hatte, langsam wieder gerade.
    In diesem Augenblick hielt das Postauto vor dem Haus, und Tommy Cathcart kam im Laufschritt den Weg herauf. Er brachte ein Paket für Hercel McGarty Jr. von Hercel McGarty Sen., denn Hercel wohnte in diesem Haus.
    »Hi, Maud. Wie geht’s denn?«, fragte Tommy. »Alles gut bei Ihnen?«
    Normalerweise fand Maud, dass es ihr mit fünfundneunzig Jahren zustand, mit Mrs. Lord angeredet zu werden, und es gefiel ihr nicht, dass die Mädchen im Ocean Breezes wie auch die Männer und Frauen in der Bank, im Supermarkt, in der Apotheke und im Blumenladen sie mit Vornamen anredeten. Jetzt aber brachte diese kleine Unhöflichkeit sie nicht aus der Fassung.
    »Was starren Sie denn da an, Maudie?« Tommy blieb stehen.
    Maud Lord drehte sich um, und im ersten Moment dachte Tommy, der Ausdruck von massivem Abscheu in ihrem Blick richte sich gegen ihn. Doch dem war nicht so. »Jemand«, sagte Maud, »hat eine graue Katze mit einer gelben Schnur an einen Ast gehängt, und wie es aussieht, ist sie tot.«
    Tommy kam schnell über den Rasen heran. »Heilige Scheiße, Maud, Sie haben recht! Mausetot. Das arme Ding.«
    Jill Franklin fuhr mit ihrem Tercel langsam die Water Street hinunter zum Polizeirevier – langsam, weil sie nachdenklich war, nicht aus Sicherheitsgründen. Sie hatte in ihrem erwählten Beruf einen kritischen Punkt erreicht, und jetzt fragte sie sich, ob ein weniger riskanter Job vielleicht mehr nach ihrem Geschmack wäre. Wildpferde zähmen, beispielsweise, oder Bullenreiten. Denn es waren nicht die körperlichen Gefahren, die ihr Sorge machten, sondern die ethischen. Selbst die hätten ihr vielleicht nichts ausgemacht, wenn ihr Sohn Luke nicht gewesen wäre. Mit seinen sechs Jahren hatte er unzählige Fragen, und wie sollte sie die beantworten, wenn sie sich selbst als miese Type empfand?
    Sie war im Frühling ihres Senior-Jahres an der University of Colorado in Boulder schwanger geworden. Das war ganz allein ihre Schuld. Sie war zu faul oder zu geizig gewesen, um sich ein neues Rezept für Antibabypillen zu holen, und Derek, ihr Freund, der bei ihr wohnte, hatte sich nicht rechtzeitig herausgezogen: Ein kleiner Erguss in ihrem Innern, der sich zu Luke entwickelt

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