Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Fest der Schlangen

Das Fest der Schlangen

Titel: Das Fest der Schlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Dobyns
Vom Netzwerk:
Ausgewogenheit von Brantleys Büro – weiche Sessel, leise Musik, gedämpfte Farben. Schreibtisch und Aktenschrank waren aus poliertem Mahagoni. Modern war nur der Computerbildschirm.
    »Nennen Sie mich Ham, das tut jeder«, sagte Digger Brantley.
    Wie bei Fred Bonaldo und Chief MacGarrah vergingen ein paar Minuten mit Smalltalk. »Ja, ich bin in diesem Haus aufgewachsen, aber wir haben dann etwas Moderneres in der James Street bezogen. Jenny – das ist meine Frau – wollte mehr Privatsphäre haben. Ich habe erst in der Schule erfahren, dass andere Kinder nicht mäuschenstill sein mussten, sobald das Telefon klingelte. Ich habe immer noch eine kleine Wohnung oben im Turm für den Fall, dass wir wirklich viel zu tun haben.«
    Brantley war ein gepflegt aussehender, grauhaariger Mann in einem blauen Anzug mit Weste. Sein rundes, glatt rasiertes Gesicht war von einem gesunden Rosa, und seine Stimme klang zuversichtlich und gedämpft. Er war noch nicht korpulent, machte jedoch den Eindruck, als hätte er Freude an fleischlichen Genüssen. Im Rahmen eines kurzen Überblicks über seine Laufbahn erwähnte er beiläufig, er habe seinen Vater einbalsamiert und beim Einbalsamieren seines Großvaters geholfen. »Das war für mich eine große Ehre«, sagte er.
    Bobby begriff, dass Brantley es im Gegensatz zu ihm nicht gespenstisch fand, seinen alten Herrn einzubalsamieren. Brantley hatte zweifellos einen ausgeprägten Sinn für seine eigene Sterblichkeit, aber er sah den Tod mit anderen Augen als Bobby. Die Beisetzung eines Menschen, der ein hohes Alter erreicht hatte, war in den meisten Fällen eine stille Gedenkfeier für ein gut gelebtes Leben. Für Kranke und Leidende hatten die Qualen gottlob ein Ende. Bei den Jungen hatte man die Pflicht, der Familie zu helfen, beim Trauern und beim Blick nach vorn. Brantleys Beruf, wie er ihn beschrieb, war geprägt von staatsbürgerlicher, gesellschaftlicher und religiöser Verantwortung. Er hoffte darauf, die Überlebenden zu seinen Freunden zu machen. Und viele waren schon seine Freunde. Schließlich waren er und Jenny in Brewster aufgewachsen.
    »Leider muss man sagen, dass Familienbetriebe in der Bestattungsbranche im Aussterben begriffen sind«, sagte er. »Die Großunternehmen breiten sich immer mehr aus. Service Corporation International ist das größte. Sie betreiben mehr als fünfzehnhundert Bestattungsinstitute und besitzen mehr als vierhundert Friedhöfe hier in den USA . In den meisten Fällen hat man es da nicht mehr mit einem ausgebildeten Bestatter zu tun, sondern mit einem Verkäufer, der sämtliche Verkäufertricks beherrscht. SCI wird an der New Yorker Börse gehandelt, und sie müssen ihre Aktionäre bei Laune halten. Entschuldigen Sie, dass ich so ausführlich darüber rede, aber es bringt mich in Harnisch, wie mein Großvater zu sagen pflegte. Früher wurde nur einer von zehn Verstorbenen eingeäschert, und heute ist es mehr als die Hälfte. In zwanzig Jahren wird sich weniger als ein Viertel noch für eine Erdbestattung entscheiden. Zum Glück haben wir unser eigenes Krematorium in der Nähe von Hope Valley, das auch den Bedarf einiger anderer Bestattungsunternehmen im South County befriedigen kann. So geht zu Hause der Ofen nicht aus, könnte man sagen.«
    Bobby sah ihn kurz an, doch Brantley behielt seinen gütigen Gesichtsausdruck bei. Bis jetzt hatte Brantley ihn noch nicht nach dem Grund für seinen Besuch gefragt. Bobby vermutete, es gehörte zu Brantleys Beruf, sich in Geduld zu üben und den Eindruck zu erwecken, er habe alle Zeit der Welt für Bobbys Nöte.
    »Ich interessiere mich für einen Ihrer Mitarbeiter«, sagte er. »Carl Krause. Wir ermitteln nicht gegen ihn, und soweit ich weiß, hat er auch nichts verbrochen. Ich möchte ihn deshalb nicht in Schwierigkeiten bringen.«
    Brantley lächelte gütig. Hinter diesem Lächeln, dachte Bobby, konnte sich alles Mögliche verbergen. Nicht unbedingt etwas Schlechtes, sondern eben einfach alles.
    »Carl ist eine große Hilfe, auch wenn er nur einen Teilzeitjob hat. Wie Sie sich vorstellen können, braucht ein altes Haus wie dieses eine Menge Wartung, und Carl ist ein Handwerker, der fast alles kann – klempnern, tischlern, Elektroarbeiten erledigen, anstreichen und verputzen. Wir können von Glück sagen, dass wir ihn haben. Gesellig ist er nicht, aber das muss er auch nicht sein. Bei Aufbahrungen hält er sich fern. Ich habe vier Vollzeit- und zwei weitere Teilzeitmitarbeiter. Keiner hat sich je über

Weitere Kostenlose Bücher