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Das Fest der Zwerge

Das Fest der Zwerge

Titel: Das Fest der Zwerge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Polzin
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sehen«, bekräftigte Bruder Jimmy-Joe Billy-Bob.
    »Sprechen wir jetzt unser Gebet«, sagte die Mutter der Kinder, die wieder hereingekommen war.
    Tara nickte mit großen Augen und senkte den Kopf. »Gott segne Mommy und die alte Em und die Geister von Daddy und Onkel Henry«, sagte sie.
    »Amen«, wiederholte Sean.
    »Nein«, sagte Bruder. »Es gibt ein neues Gebet.«
    »Sag es uns«, antworteten beide Kinder.
    »Matthäus, Markus, Lukas, Johannes«, sagte er, »gebt uns euren Segen für alles.« Er wartete, bis die beiden den Vers wiederholt hatten, dann fuhr er fort. »Jim und Tammy, Jan und Klaus, treibt uns die Dämonen aus.«
    Die Kinder rezitierten fehlerlos, und Tara fragte nochmals: »Wirst du wirklich den Weihnachtsmann sehen?«
    »Ja«, sagte Bruder Jimmy-Joe Billy-Bob. »Gute Nacht.«
     
    Bruder sah nach dem Klan, bevor er auf das Dach hinaufstieg. Eine kleine Gruppe hatte sich vor dem Baum zusammengedrängt, sie murmelten und lauschten der alten McCarthy, aber unter Bruders Blick zerstreuten sich die Jägerinnen und verkrochen sich in ihren Schlafsäcken. Die Matriarchin erhob sich und erwiderte den Blick von Bruder Jimmy-Joe Billy-Bob einen Moment, aber dann senkte auch sie den Kopf und entfernte sich, nur eine alte Frau, die ins Bett schlurfte.
    Auf dem Dach kniete Bruder vor dem Resopalaltar und betete mehrere Minuten lang laut. Schließlich stand er auf und zog sich nackt aus. Es war sehr kalt. Mondlicht spiegelte sich auf seiner bloßen Haut und der Wölbung der Heiligen Schüssel. Bruder holte die Plastikeimer heraus und stellte sie unter die vier Ecken des Altars. Dann nahm er das lange Messer aus der Scheide, hielt es mit beiden Händen hoch, dass das Licht auf der Edelstahlklinge blitzte, und klemmte es zwischen die Zähne.
    Bruder schlich lautlos über das Dach, bis er mit den Schatten am Treppenaufgang verschmolz. Dort kniete er nieder und spürte erst den Kies des Dachs an den nackten Knien, dann schmeckte er den kalten Stahl in seinem Mund; dann spürte er gar nichts mehr, außer seiner zunehmenden Erregung.
    Es dauerte nicht lange. Zuerst waren leise Geräusche von der Treppe zu hören, dann tauchte eine schemenhafte Gestalt aus der Dunkelheit auf, und zuletzt fragte eine leise Stimme: »Bruder Jimmy-Joe?«
    Also sollte es nicht die alte Frau sein, dachte Bruder. So sei es.
    »Bruder Jimmy-Joe?« Die kleine Gestalt ging auf den Altar zu. Mondlicht fiel auf die dunklen Zöpfe des Puppenhaars. »Weihnachtsmann?«
    Bruder Jimmy-Joe Billy-Bob sprach ein stummes Gebet, nahm das Messer aus dem Mund und bewegte sich behände und rasch vorwärts, um den kommenden Tag zu feiern.
     

Tobias O. Meißner
                                    Der letzte Weinaxtmann
     
    Nur noch vierundzwanzig von ihnen waren übrig geblieben.
     
    Schnee lag über allem und tanzte noch weiter von oben herab.
    Von unten aus dem Tal zitterten die falschen Choräle. Gescheitelte Knaben sangen mit lieblichen Stimmen verzerrte Versionen der überlieferten Hymnen. Ganze Waldhornorchester hupten und tuteten, rotbackig weißen Dunst aus Schalltrichtern blähend, um selbst den Schlotterndsten noch Mut zu machen. Unablässig rußten die Fackeln des riesigen Heerlagers.
    Die Wucherer und Schacherer hatten ein gewaltiges Aufgebot zusammengetrommelt. Es mochten zehntausend Uniformierte dort unten sein, vielleicht sogar hundertundzehntausend. Krawattentragende Söldner aus allen Teilen der Welt. Festlich herausgeputzte Kriegerinnenschulen, die die Leitsätze ihrer Lehrer zu jeder vollen Stunde wie Gedichte artig aufsagten. Geflügelköche mit ihren Kloßknetergesellen und Rotkohlsensenmännern. Verdauungsschnapsbrenner mit ihren zum Trinken ermutigenden Witzchen und Weisheiten. Hausfrauen, die in Kittelschürzen ihren Männern folgten in Wüsten oder unendliches Eis. Könige und Präsidenten samt Gefolgschaften, Bannerfarben, Mätressen und anderen Eigentümlichkeiten. Es wurde geprasst und gelacht. Käufliche Männer und Frauen, mit Strass behängt, torkelten klirrend von Zelt zu Zelt. Spiele wurden gespielt, Wertpapiere gehandelt, Ländererträge prognostiziert, um Beute und Gegenden gefeilscht, die noch gar nicht errungen waren. Es gab auch den einen oder anderen Skandal, und Köpfe rollten, aber natürlich nicht in echt, sondern mit Abfindung.
     
    Die vierundzwanzig, die noch übrig geblieben waren, blickten hinunter in das schneetiefe Tal, sahen sich dann gegenseitig in die Augen und

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