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Das Fest der Zwerge

Das Fest der Zwerge

Titel: Das Fest der Zwerge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Polzin
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hinaufgerichtet worden war, als verharrte sie bereits, um die ersten Signale des Heiligen Senders zu empfangen, den Bruder Jimmy-Joe Billy-Bob vor vierzehn Monaten in Dothan, Alabama, hatte errichten lassen. Hinter der Heiligen Schüssel lag, verpackt und sicher verschnürt, die Heilige Glotze, und dahinter wiederum, in durchsichtige Plastikfolie verpackt, das Fahrrad des Herrn. Der Coleman-Generator befand sich beim Bug, er nahm Bruder teilweise die Sicht, bildete aber das Gegengewicht der gesegneten Reliquien achtern.
    Bruder Jimmy-Joe Billy-Bob paddelte nach Norden zu den vergitterten Überresten des Rockefeller Center und dem bröckelnden Turm von St. Patrick's. In diesem Abschnitt der Rimwall Bay gab es Dutzende bewohnter Türme, Hunderte von Feuern leuchteten in den von Ranken zugewucherten und rostigen Ruinen über ihm, aber Bruder schenkte ihnen keine Beachtung, sondern ruderte zielstrebig weiter nordwestwärts Richtung 666 Fifth Avenue.
    Das Gebäude stand noch – zumindest fünfunddreißig Stockwerke, achtundzwanzig davon über der Wasseroberfläche –, und Bruder ließ den langen Einbaum zur Basis treiben. Er stand auf – hielt sorgfältig das Gleichgewicht, rückte das Gewicht der halbautomatischen Heckler & Koch-HK-91-Flinte des Christlichen Überlebensnetzes auf seinem Rücken zurecht – und hob die Arme mit offenen Handflächen in die Höhe. Schemenhafte Gestalten sahen aus Lücken in den dunklen Glasscheiben auf ihn herab. Irgendwo schrie ein Baby, wurde aber sofort zum Schweigen gebracht.
    »Ich bringe euch die frohe Botschaft der Auferstehung Christi!«, rief Bruder Jimmy-Joe Billy-Bob. Seine Stimme hallte von Wasser und Stahl wider. »Gute Nachrichten von eurer bevorstehenden Erlösung von Drangsal und Leid!«
    Schweigen, dann rief eine Stimme herunter. »Wen suchst du?«
    »Ich suche den ältesten Klan. Den mit dem stärksten Totem, damit ich Geschenke und das Wort des Herrn von der Wahren Kirche des Beschwichtigten Christus überbringen kann.«
    Die Echos hielten mehrere Stunden an, das Schweigen noch länger. Dann rief eine Frauenstimme von weiter oben. »Das wäre der Klan vom Roten Zwerghuhn. Sei willkommen, Fremder, und wisse, dass wir das Wort Gottes bereits hier haben. Komm zu uns. Sei Gast an unserem Feuer und nimm teil an unseren Vorbereitungen für den heiligen Tag.«
    Bruder Jimmy-Joe Billy-Bob nickte und band das Kanu an einem rostigen Träger fest. Der Heilige Geist hatte noch nicht zu ihm gesprochen. Er wusste nicht, wie der Weg bereitet werden sollte. Er wusste nur, binnen achtundvierzig Stunden würden sie bereit sein, ihn zu ermorden oder ihn anzubeten. Beides würde er nicht zulassen.
     
    Den ganzen Heiligabend arbeiteten sie daran, das Geschenk der Heiligen Schüssel auf dem Dach zu montieren. Die Treppen waren zu eng, die Fahrstuhlschächte zu sehr mit Strickleitern, Flaschenzügen, Körben und Ranken verhangen. Bruder überwachte persönlich die Konstruktion des Flaschenzugs, um die Schüssel die achtzig Meter zum Dache des Gebäudes hochzuziehen. Die drei Treppenfluchten über dem bewohnten fünfundzwanzigsten Stock waren selbst für die Freikletterer des Klans vom Roten Zwerghuhn gefährlich. Bruder hatte darauf bestanden, dass sie den Weg über die mit Schutt bedeckte Treppe hinauf sicherer machten. »Wir werden oft hier hochkommen, wenn der heilige Sender euch mit dem Wort verbindet«, sagte er. »Und ebenso die anderen Klans der Hanse von Rimwall. Der Weg muss frei sein, damit ihn die Jüngsten wie die Ältesten gefahrlos passieren können.«
    Die alte McCarthy, die runzlige Matriarchin des Klans vom Roten Zwerghuhn, hatte mit den Schultern gezuckt und einer Gruppe Frauen Anweisungen gegeben, die Treppe zu reinigen, während die Männer die Heilige Schüssel aufstellten.
    Als der Sonnenuntergang den Himmel rot färbte, war alles an Ort und Stelle: die Heilige Schüssel fest auf der höchsten Spitze des Dachs verschraubt, das Gotteswort so genau justiert, wie es Bruders Geschick und sein rostiger Sextant zuließen; den Resopalaltar hatte man unter der Schüssel aufgebaut, Kabel liefen zum Gemeinschaftsraum des Klans im fünfundzwanzigsten Stock hinunter. Dort war der Generator aufgestellt worden, und die kräftigsten Jägerinnen des Klans hatten Anweisung bekommen, sich für den Gottesdienst bei Sonnenuntergang am Fahrrad des Herrn abzulösen. Tara, die Fünfjährige mit dem Engelsgesicht, zupfte an Bruders Mantel, als er seine Plastikeimer wegstellte. »Es ist fast

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