Das Fest des Ziegenbocks
spazieren; er wiegt sich, bleibt stehen, wetzt den Schnabel an den Füßen. »Es waren andere Zeiten, liebe Uranita«, stammelt Tante Adelina, während sie die Tränen hinunterschluckt. »Du mußt ihm verzeihen. Er hat gelitten, er leidet. Es war schrecklich, meine Liebe. Aber es waren andere Zeiten. Agustín war verzweifelt. Er hätte ins Gefängnis kommen, ermordet werden können. Er wollte dir nicht weh tun. Er dachte vielleicht, daß es
die einzige Möglichkeit war, dich zu retten. Solche Dinge passierten, auch wenn man das jetzt nicht mehr versteht. So war das Leben hier. Agustín hat dich mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt geliebt, Uranita.« Die Alte reibt unruhig die Hände aneinander und bewegt sich erregt in ihrem Schaukelstuhl. Lucinda tritt zu ihr, streicht ihr übers Haar, gibt ihr ein paar Tropfen Baldrian: »Beruhig dich, Mami, reg dich nicht so auf.« Durch das kleine Gartenfenster sind die funkelnden Sterne der friedlichen dominikanischen Nacht zu sehen. Es waren andere Zeiten? Ab und zu strömen Wellen warmer Luft in das Eßzimmer und bewegen die Vorhänge und die Blumen eines Blumentopfes zwischen Heiligenfiguren und Familienphotos. ›Sie waren es, und sie waren es nicht‹, denkt Urania. ›Ewas von diesen Zeiten liegt noch immer hier in der Luft.‹
»Es war schrecklich, aber es hat mir auch erlaubt, die Großzügigkeit, das Zartgefühl, die Menschlichkeit von Sister Mary zu erfahren«, sagt sie seufzend. »Ohne sie wäre ich verrückt geworden oder tot.« Sister Mary fand Lösungen für alles und war ein Muster an Diskretion. Das fing bei der ersten Hilfe in der Krankenstube der Schule an, um die Blutung zu stillen und den Schmerz zu lindern, und ging so weit, daß sie in weniger als drei Tagen die Oberin der Dominican Nuns dazu gebracht hatte, die Formalitäten zu beschleunigen und Urania Cabral, der Musterschülerin, deren Leben gefährdet war, das Stipendium zu gewähren, damit sie an der Siena Heights University in Adrian, Michigan, ihre Studien fortsetzen konnte. Sister Mary sprach mit dem Senator Agustín Cabral (beruhigte sie ihn? versetzte sie ihn in Angst und Schrecken?) im Büro der Direktorin, sie drei allein, und bat ihn dringend, die Reise seiner Tochter in die Vereinigten Staaten zu erlauben. Und überzeugte ihn auch, auf ein Wiedersehen zu verzichten: sie war zu verstört nach dem Geschehen in San Cristóbal. Was drückte das Gesicht Agustín Cabrals dabei aus? Urania hat sich das oft gefragt: heuchlerische Überraschung? Unbehagen? Verwirrung? Reue? Scham?
Sie hatte nie danach gefragt, und Sister Mary hatte ihr nie etwas gesagt. Die Nonnen besorgten das Visum im amerikanischen Konsulat und baten Präsident Balaguer in einer Audienz, den Prozeß der Genehmigung zu beschleunigen, um die die Dominikaner für Auslandsreisen ersuchen mußten, ein Verfahren, das gewöhnlich Wochen dauerte. Die Schule bezahlte ihr Flugticket, da der Senator Cabral zahlungsunfähig war. Sister Mary und Sister Heien Claire begleiteten sie zum Flughafen. Wofür Urania ihnen am meisten dankte, als das Flugzeug abhob, war, daß sie ihr Versprechen gehalten hatten, Papa nicht einmal von weitem sehen zu müssen. Jetzt war sie ihnen auch dankbar dafür, daß sie sie vor dem nachträglichen ZornTrujillos gerettet hatten, der sie auf der Insel hätte festhalten oder den Haien zum Fraß vorwerfen können. »Es ist furchtbar spät«, sagt sie, während sie auf die Uhr schaut. »Fast zwei Uhr morgens. Ich habe noch nicht einmal gepackt, und mein Flugzeug geht in aller Frühe.« »Du fliegst morgen nach New York zurück?« sagt Lucindita betrübt. »Ich habe geglaubt, du würdest einige Tage bleiben.«
»Ich muß arbeiten«, sagt Urania. »In der Kanzlei erwartet mich ein Stapel Papiere, zum Schwindligwerden.« »Jetzt wird es nicht mehr wie früher sein, nicht wahr, Uranita?« Manolita umarmt sie. »Wir werden uns schreiben, und du wirst die Briefe beantworten. Ab und zu kommst du im Urlaub her, um deine Familie zu besuchen. Nicht wahr, Mädchen?«
»Auf jeden Fall«, nickt Urania, während sie ihre Umarmung erwidert. Aber sie ist nicht sicher. Wenn sie dieses Haus, dieses Land verlassen hat, wird sie diese Familie, diese Leute, ihre Vergangenheit vielleicht lieber vergessen und bereuen, daß sie gekommen ist und geredet hat, wie sie es heute abend getan hat. Oder vielleicht nicht? Wird sie womöglich den Wunsch haben, die Verbindung mit dem Rest von Familie, der ihr bleibt, in irgendeiner Weise
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