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Das Festmahl des John Saturnall

Das Festmahl des John Saturnall

Titel: Das Festmahl des John Saturnall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Norfolk
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Bediensteten zum Besuch der zweiten Andacht in den Flur strömten und sich zu ihrer eigenen Prozession in die Kapelle formierten. Die Mädchen schlichen durch die hinterste Tür und stiegen die Treppe hinunter. Lady Lucretia spürte ihr Herz pochen. Vor Glück, dachte sie sich und ergriff Ihre Majestät am Arm, um sie die Stufen hinunter zu geleiten. Sie zu geleiten, war gewiss erlaubt.
    Als sie den Hof der Dienerschaft überquerten, verkrampfte sich Lady Lucretias Magen wieder. Am Morgen war es immer schwierig, dachte sie, als sie an den Abtritten vorbeikamen, wo Ihre Majestät und die Dame vom Fußschemel ob des Gestanks die Nase rümpften. In dem kopfsteingepflasterten überdachten Gang dahinter hasteten Bedienstete durch das Dämmerlicht, Hausknechte schoben Lastkarren. Die Küchen spien ihre üblichen Geräusche und Gerüche aus. Lady Lucretia widerstand der Versuchung, die Hände auf das Zwerchfell zu pressen, und zwang sich, an die Galerie zu denken, an die Wandbehänge und Teppiche, die in den Farben ihrer Phantasie erstrahlten, an die Zimmerflucht, die sie durchqueren würden. Sie warf einen besorgten Blick zu Ihrer Majestät, doch alles verlief plangemäß. Und dann stießen sie am Kücheneingang auf den Jungen.
    Braunes Haar hing in Strähnen um ein offenes Gesicht. Sein Mund schien in der Andeutung eines Lächelns erstarrt zu sein. Er saß hinter einem großen Weidenkorb, zur Hälfte mit Federn gefüllt, und hielt einen halbgerupften Fasan in der Hand. Ein kurzer verächtlicher Blick genügte Lady Lucretia. Die schmierige rote Livree wies ihn als Bewohner der verrauchten Gefilde hinter dem gähnenden Eingang aus. Kurz gesagt, als Küchenjungen.
    Master Scovells Günstlinge wurden von den Gefährtinnen Ihrer Majestät nicht zur Kenntnis genommen, geschweige denn von Ihrer Majestät höchstselbst. Doch beim Anblick Ihrer Majestät riss der Junge
die Augen auf. Tote Vögel häuften sich neben ihm auf einer Bank: Enten, zwei Gänse, ein Fasan, kleine Berge von Rebhühnern und Tauben. Andere gefiederte Leichname lagen in Kisten darunter. Sein dreister Blick war in Lady Lucretias Augen unverschämt genug. Doch zu ihrer Empörung zwinkerte der Junge ihnen auch noch zu.
    »Diesen Jungen werde ich auspeitschen lassen«, verkündete sie mit zornentbranntem Blick. Aber Ihre Majestät erhob einen Protest, der wie ein Klagelaut klang.
    »Nein, Lucy! Das darfst du nicht!«
    Das weiche Herz Ihrer Majestät war allzu weich, dachte Lucretia, die weitereilte. Die nachgiebige Königin brauchte ihre Damen als Schutz. Sie brauchte Lady Lucretia, die sie weiterdrängte und dann mit ihr quer durch den von hochaufgeschossenem Unkraut überwucherten Ziergarten lief. Am anderen Ende stieß sie eine Tür auf, hinter der steinerne Stufen zu einer Wendeltreppe anstiegen. Lady Lucretia lauschte auf das Klopfen ihres Herzens. Der Quälgeist in ihrem Magen hatte Ruhe gegeben. Die Damen stiegen die Treppe hinauf. Vor einer Eichentür mit eisernen Beschlägen griff Lady Lucretia in ihre Röcke und förderte einen schweren Schlüssel zutage. Hinter der Tür, so versicherte sie Ihrer Majestät, erwarteten ihre Damen sie in ihrem Schlafgemach am Ende der sonnenbeschienenen Galerie.
    Das geborstene Schloss knirschte. Die Tür sprang knarrend auf. Sonnenlicht erfüllte die Galerie. Die Zimmerdecke war so hoch, dass sie zu schweben schien. Doch statt Holzvertäfelung nur rohe, schmucklose Ulmenbretter, die Wände ohne Wandteppiche.
    Sie würden sich die Zimmer in Gedanken vorstellen, sagte sich Lady Lucretia. Sie hatten es immer wieder geprobt. Sie führte die Hand an ihre Haube und ordnete ihr Haar, das für diesen Anlass zu Zöpfen geflochten und zu komplizierten Gebilden aufgesteckt war. Am Ende der Galerie war die Tür aus dunklem Eichenholz. Hinter der Tür lag das Schlafgemach.
    Ihre Majestät hustete in der trockenen abgestandenen Luft. Lady Lucretia eilte voraus, öffnete Fensterriegel und schlug mit den Fäusten
gegen die verzogenen Rahmen. Nur widerstrebend gaben die Fensterflügel nach. Sonnenlicht blitzte auf den Glasscheiben.
    »Man wird uns sehen«, warnte Ihre Majestät ängstlich.
    »Sollen sie nur!«, rief Lady Lucretia fröhlich, riss das letzte Fenster auf und sah hinaus.
    Der halbe Ostgarten war ein Wunderwerk der Ordnung. Lavendelbeete und kleine Rasenflächen säumten sauber geschnittene Hecken und umzäunte Obstbäume. Doch mitten im Garten wich diese Ordnung der Verwilderung. Wiesenkerbel und Nesseln überwucherten die

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