Das Festmahl des John Saturnall
zwei Impulse aufeinandertrafen. Leugne es, ermahnte sie sich wieder. Hungere es aus.
Es sei früh am Tag, schalt Lady Lucretia Ihre Majestät. Die Mittagsmahlzeit würde in wenigen Stunden aufgetragen werden. In diesem Fall habe es aber keinen Sinn, sich zu Bett zu begeben, wehrte sich Ihre Majestät. Außerdem sei das Bett entsetzlich staubig.
»Lasst Euch von der Müdigkeit überkommen, Eure Majestät«, sagte Lady Lucretia beschwörend und drückte die Königin auf das Bett, ohne ihren gespielten Widerstand zu beachten. Sie zog Ihrer Majestät die Strümpfe und Schuhe aus, was eine bedauerliche Unterlassungssünde offenbarte.
»Eure Majestät, wann habt Ihr Euch zuletzt die Füße gewaschen?«
»Letzte Woche!«, erwiderte Ihre Majestät ungnädig.
Sie hätte ihr eine Strafpredigt halten wollen, doch es war zu spät. Neben dem Bett stand eine Wiege mit angelaufenen Silberglöckchen an der Wand. Lucretia nahm ihre Haube ab und kniete nieder. Sie senkte den Kopf und schloss die Augen. Mögen Eure Majestät sich erinnern,
hoffte sie flehentlich. Sie lauschte auf den leisen Atem der Königin. Diesen Teil hatten sie so oft geprobt.
Eine weiche Hand legte sich auf ihren Kopf, und Lucretia empfand die Berührung wie Balsam. Tief in ihrem Inneren schwand der Hunger.
Der Appetit war nicht ihr Appetit. Er war der Kostgänger, der sich in ihrem Inneren eingenistet hatte. Als Ihre Majestät ihre Haare zu streicheln begann, spürte Lucretia, wie der nagende Schmerz sich verflüchtigte. Die Finger glitten über die Flechten, lockerten und lösten die dicken schwarzen Zöpfe. Lucretia kniete zwischen der Wiege und dem Bett, die Augen, in denen sich Tränen sammelten, fest geschlossen. Die Hand streichelte ununterbrochen.
Doch dann kicherte Ihre Majestät.
»Tut mir leid, Lucy«, sprudelte es aus ihr heraus.
Lucretia Fremantle öffnete die Augen. Auf dem Boden lagen die langen Wollstrümpfe, die zu tragen sie »Ihre Majestät« an diesem Morgen hatte bewegen können. Da hatten ihre Füße noch nicht so schlecht gerochen. Vielleicht lag es an den Stiefeln. An den ledernen Bauerntretern, die sie tragen mussten, weil Mistress Gardiner es so verordnete. Bei dem Gedanken an die Wirtschafterin packte sie den nächstbesten Stiefel und warf damit nach den Stühlen. Die Hofdamen des Kabinetts fielen hinunter, mit schlaffen Gliedmaßen und glänzenden Augen. Aus der armen Lady Pimpernel sickerte etwas Füllung. Die anderen Puppen lagen auf dem Boden oder lehnten schlaff an der Wand. Das Mädchen auf dem Bett unterdrückte einen Lachkrampf.
»Das ist nicht lustig!«, rief Lucretia tadelnd. »Du bist immer die Spielverderberin, Gemma. Und deine Füße stinken!«
Das andere Mädchen richtete sich halb auf; es war dunkelhaarig wie Lucretia, aber mit vollerem Gesicht. Allmählich erstarb ihr Kichern.
»Warum müssen wir dieses Spiel spielen, Lucretia?«, fragte sie schließlich.
»Mir gefällt es«, antwortete Lucretia schroff.
Sie legte eine Hand auf den Rand der Wiege und schaukelte sie. Die Glöckchen klingelten.
»Ich kann dieses Zimmer nicht leiden«, klagte Gemma und klopfte auf die Bettdecke, wobei sie eine Staubwolke aufwirbelte. »Kein Wunder, dass es abgeschlossen ist.«
Lucretia richtete den Blick auf die schwarzen Behänge, das silberne Kruzifix über dem Kamin und das kleine Buch, das auf dem Kaminvorsatz lag. Die Schlüssel hatte sie ganz hinten in Mister Pounceys Schublade gefunden. Als sie zum ersten Mal die Treppe hinaufgeschlichen war und die Tür aufgesperrt hatte, hatte sie den Flecken betrachtet, der wie eine dunkle Zunge, die am Boden leckte, unter dem Bett hervorquoll. Sie war niedergekniet und hatte ihr Gesicht in dem Kissen vergraben, hatte tief eingeatmet in der Hoffnung, einen verbliebenen Geruch zu erhaschen.
Staub. Modrige Federn.
»Warum ist es so dunkel?«, fragte Gemma. »Warum kommt nie jemand hierher?«
Lucretia dachte an das Gesicht auf dem Medaillon, das an ihr Brustbein drückte, die Frau mit dunklen Haaren und dunklen Augen, die Haare zu Flechten und Zöpfen aufgesteckt. Doch während sie ihre Antwort erwog, ertönte ein knarrendes Geräusch aus der Galerie draußen. Und dann ein zweites.
Jemand schloss die Fenster. Gemma warf Lucretia einen entsetzten Blick zu. Schritte kamen näher.
»Lucy!«
Für Mistress Pole klang der Schritt zu schwerfällig. Und Mistress Gardiner kündigte ihr Kommen mit dem Klingeln ihres umfangreichen Schlüsselbunds an. Lucretia kannte diese Schritte. Sie
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