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Das Festmahl des John Saturnall

Das Festmahl des John Saturnall

Titel: Das Festmahl des John Saturnall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Norfolk
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kamen näher und hielten inne. Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgerissen.
    Eine schwarze Silhouette stand in der Tür. Ein breitschultriger Mann stand auf der Schwelle. Unter einem dicken Überrock trug er ein schwarzes Hemd und schwarze Kniehosen. Sein Blick wanderte über die schwarz verhängten Wände, verharrte auf den Puppen und gelangte zuletzt zu den zwei Mädchen. Gemma sah auf, die Augen vor Angst geweitet. Lucretia erwiderte den Blick des Mannes.

    Sie fürchtete ihn nicht. Das wussten alle Bediensteten. Das einzige Lebewesen im Tal von Buckland, das Sir William die Stirn zu bieten wagte, war seine Tochter. Sie wartete auf das Gebrüll, das seine Bediensteten so fürchteten. Doch ihr Vater betrachtete sie wortlos. Einmal im Jahr kam er her, das wusste sie, stapfte mit schweren Schritten die Galerie entlang und verbrachte die Stunden in einsamer Nachtwache. Nun sah er sich in dem Zimmer um, in dem Durcheinander aus Kämmen, Flakons, Nadelkissen und Stickmustern samt dem Büchlein auf dem Kaminsims, alles von einer Staubschicht überzogen. Dann verharrte sein Blick wieder auf Lucretia.
    »Gemma hat nur meine Anweisungen befolgt«, begann Lucretia. »Sie hat mir nur gehorcht ...«
    »Sei still.«
    Sie spürte, wie Gemma neben ihr zitterte. Sie fürchtete, entlassen zu werden, hatte sie Lucretia anvertraut. Wohin sollte sie gehen? Der Blick des Vaters wanderte durch den Raum. Dann umwölkte sich seine Miene auf ungewohnte Weise. Verwunderung, die Lucretia noch nie an ihm gesehen hatte. Für einen Augenblick sah er ratlos aus.
    »Du kommst zum Spielen hierher?«
    Es war kein Spiel, hätte sie am liebsten erklärt. Gemma war keine Königin. Nur ihre Kammerzofe und Gefährtin. Doch wenn sie die Hand senkte und ihre weichen Finger Lucretia streichelten, konnte Lucretia dem Körper entschlüpfen, der sie beherbergte. Sie konnte seinen widerborstigen Begierden und Schmerzen entschlüpfen. Und dem tiefsten aller Schmerzen.
    Lady Anne hatte drei Tage lang Blut verloren, hatte Mistress Gardiner Lucretia erzählt. Weder die von Sir William angeordneten Fürbitten noch die erfahrenste Hebamme des Tals hatten sie retten können. Hier war sie gestorben, in diesem Bett, und danach war das ganze Gutshaus versiegelt worden, beigesetzt, als wäre das Gutshaus von Buckland mit ihr gestorben.
    Aber Lucretia war am Leben geblieben. Als hätte sie aus den Adern ihrer Mutter das Lebensblut gesaugt. Das war der Appetit tief in
ihrem Inneren. Das Verlangen, das sie leugnete und zu ersticken versuchte...
    Ihr Vater blickte zu ihr herunter. Und dann sah sie, wie die Verwunderung aus seiner Miene schwand und Neugier an ihre Stelle trat. Was ist das für ein Spiel, Lucretia? Was wäre, wenn er sie dies fragte? Und wenn er sie mit ihrem Namen anredete? Was wäre dann? ... Sie erwiderte seinen starren Blick. Sie würde ihm antworten, dachte sie. Sie würde ihm sagen, warum sie herkam, ja, das würde sie tun. Er öffnete den Mund.
    »Welcher Vorsehung verdankst du dein Leben?«
    Sie sah ihn an, um eine Antwort verlegen, ihr Gesicht eine Maske, als er abrupt kehrtmachte. Vor dem Zimmer warteten zwei vertraute Erscheinungen, eine dicke und eine dünne: Mistress Gardiner, die Wirtschafterin, und Mistress Pole, Lucretias Erzieherin. Beide knicksten tief vor Sir William.
    Lucretia stand auf und ging um das staubige Bett herum. Als sie an dem Kaminsims voller Krimskrams vorbeikam, fiel ihr Blick auf das Buch. Fast unwillkürlich nahm sie es aus der Ansammlung pelziger Flaschen und staubüberzogener Kämme. Gemma öffnete den Mund zu einem wortlosen Ausruf, doch Lucretia hielt das Buch fest in den Händen und ging aus dem Zimmer, den ledergebundenen Band vor sich hertragend.
    »Schämt Euch!«, rief Mistress Pole.
    »Warum quält Ihr ihn?«, fragte Mistress Gardiner.
    »Habe ich meinen Vater verärgert?«, fragte Lucretia unschuldig. »Dann werde ich wieder fasten.«
    »Aber, Kind!«, rief Mistress Gardiner. Mistress Pole schüttelte nur den Kopf.
    Eine langweilige Bußübung würde das Ergebnis sein, das wusste sie. Näharbeiten oder Auswendiglernen von Gedichten oder in ihrem Zimmer auf dem Schemel sitzen. Es scherte sie nicht. Lucretia hörte, wie die schwere Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Auf einmal kam ihr das Spiel mit Gemma kindisch vor. Wie eine alberne Scharade.

    Sie ging voraus, ohne nach rechts oder nach links zu blicken, die heißen Handflächen an den geprägten Ledereinband gepresst. Pole und Gardiner kamen mit Gemma

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