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Das Feuer von Innen

Das Feuer von Innen

Titel: Das Feuer von Innen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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welche die alten und auch die neuen Seher über das Bewußtsein herausgefunden hätten. Diese Wahrheiten seien, der Verständlichkeit halber, in ein bestimmtes logisches System gebracht worden. Die Kenntnis des Bewußtseins, erklärte er, bestünde nun im Verinnerlichen des ganzen Systems dieser Wahrheiten. Die erste Wahrheit besage, so erläuterte er, daß unsere Vertrautheit mit der Welt, wie wir sie wahrnehmen, uns zu der Annahme verleitet, wir wären von Objekten umgeben, die an und für sich so existierten, wie wir sie wahrnähmen. Während es tatsächlich gar keine Objekte gebe, sondern nur ein Universum von Ausstrahlungen - von Emanationen des Adlers.
    Bevor er mir aber diese >Emanationen des Adlers< erklären könne, so sagte er, müsse er über drei Begriffe sprechen: das Bekannte, das Unbekannte und das Unerkennbare. Die meisten jener Wahrheiten über das Bewußtsein seien bereits von den alten Sehern entdeckt worden. Doch das System, in das sie eingeordnet wurden, hätten die neuen Seher ersonnen. Und ohne dieses System wären die Wahrheiten nahezu unverständlich. Daß die alten Seher es versäumten, nach einer Ordnung ihrer Wahrheiten zu suchen, sei ein großer Fehler gewesen. In verhängnisvoller Konsequenz dieses Fehlers, sagte Don Juan, hätten sie angenommen, daß das Unbekannte und das Unerkennbare ein und dasselbe wären. Erst die neuen Seher sollten diesen Irrtum berichtigen. Sie analysierten die Dinge und definierten das Unbekannte als etwas, das dem Menschen zwar verborgen, vielleicht durch einen angstmachenden Kontext verdunkelt, aber dennoch dem Menschen zugänglich sei. Das Unbekannte werde sich irgendwann in das Bekannte verwandeln. Das Unerkennbare hingegen sei das Unsagbare, das Undenkbare, das Unergründliche. Es sei etwas, das uns niemals bekannt werden wird, und doch sei es da - verwirrend und zugleich furchterregend in seiner Unermeßlichkeit.
    »Wie können die Seher zwischen beiden unterscheiden?« fragte ich.
    »Es gibt eine Faustregel«, sagte er. »Angesichts des Unbekannten ist der Mensch wagemutig. Es ist ein Merkmal des Unbekannten, daß es uns Hoffnung und Freude einflößt. Der Mensch fühlt sich stark, unbeschwert. Sogar die ängstliche Spannung, die es weckt, ist befriedigend. Die neuen Seher sahen, daß der Mensch angesichts des Unbekannten auf der Höhe seiner Kräfte ist.« Doch immer wenn das Unbekannte sich als das Unerkennbare erweise, so sagte er, seien die Folgen verhängnisvoll. Der Seher fühle sich ausgehöhlt, verwirrt. Er sei tief bedrückt. Sein Körper verliere an Widerstandskraft, sein Verstand und sein Denken irrten ziellos, denn das Unerkennbare habe keinerlei inspirierende Wirkung. Es sei dem Menschen unzugänglich; darum solle man in das Unerkennbare nicht törichterweise eindringen - und auch nicht besonnenerweise. Die neuen Seher hätten auch erkannt, daß sie bereits für den flüchtigsten Kontakt mit diesem einen furchtbaren Preis zahlen mußten.
    Die neuen Seher, so erklärte Don Juan, mußten gewaltige Schranken der Tradition überwinden. Damals, als der neue Zyklus begann, wußte ja keiner von ihnen, welche Techniken ihrer großartigen Überlieferung die richtigen wären, und welche nicht. Denn bei den alten Sehern war offenbar etwas schiefgelaufen. Die neuen Seher wußten aber nicht, was. So nahmen sie anfangs an, daß alles, was ihre Vorfahren taten, falsch gewesen sei. Diese alten Seher waren, wie Don Juan sagte, Meister der unbegründeten Mutmaßung. So etwa hätten sie vermutet, ihre hochentwickelte Kunst des Sehens werde ihnen Sicherheit bieten. Sie hielten sich für unberührbar - bis die Invasoren sie vernichteten und den meisten einen schrecklichen Tod bereiteten. Die alten Seher waren völlig schutzlos, trotz ihres festen Glaubens an ihre Unverletzlichkeit.
    Die neuen Seher vergeudeten keine Zeit mit Spekulationen darüber, was schiefgelaufen sein mochte. Vielmehr begannen sie das Unbekannte kartographisch zu vermessen, um es auf diese Weise vom Unerkennbaren zu scheiden.
    »Wie haben sie das Unbekannte vermessen, Don Juan?« »Durch ihr kontrolliertes Sehen«, antwortete er. Ich hakte noch einmal nach und fragte, was das bedeute, das Unbekannte zu vermessen?
    Das Unbekannte vermessen, sagte er, bedeute, es unserer Wahrnehmung zugänglich zu machen. Durch unermüdliches Sehen hätten die neuen Seher herausgefunden, daß dem Unbekannten und dem Bekannten die gleiche Stellung zukomme, weil sie beide der menschlichen Wahrnehmung zugänglich

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