Das Filmbett
dieses zwanzigsten Jahrhunderts,
obwohl sie mit ihren siebzehn Lenzen noch lange nicht das Alter dieses
Jahrhunderts erreicht hatte. Sie war, obgleich aus gutbürgerlichem Hause, aufgeklärt,
sie wußte über die biologischen Gegebenheiten des Lebens Bescheid und tat sich
einiges darauf zugute. Sie hatte »Die vollkommene Ehe« gelesen und das Buch
über die Kameradschaftsehe, das gerade in der Jugend Furore machte. Sie fühlte
sich emanzipiert und hatte immerhin schon einen Beruf, den sie als Berufung
betrachtete und der sie ganz ausfüllte. Sie war Tänzerin — o nein, keines jener
Amüsiermädchen, die in Flitterkostümen und altmodischem Talmiglanz in
Nachtlokalen mit Weinzwang ältere Herren zu Konsumation veranlaßten, sie war
auch keine jener unnatürlichen Tanzpuppen, die in geschnürten Korsagen und
plumpen Schuhen auf Fußspitzen trippelten und mit gezierten Armbewegungen die
Flügelschläge sterbender Schwäne imitierten, nein, sie war keine Ballettratte,
sondern Ausdruckstänzerin, Überzeugungstänzerin. Ihr Tanz war keine leere
Artistik und keine pausbäckige Operettenfolklore, sondern rebellierende
Weltanschauung. Und wenn das irgendwo anerkannt wurde, dann hier in Ascona, dem
Fischerdorf am Lago Maggiore, das der Fremdenverkehr noch nicht zum Zielpunkt
des Massentourismus gemacht hatte. Und deswegen hatte auch der Wirt des
schlichten Gasthofes nicht mit der Wimper gezuckt, als er in ihrem deutschen
Reisepaß die Profession gelesen hatte: Tänzerin, ein Wort, das sie im
Meldeformular mit einem demonstrativen Ausrufungszeichen versehen hatte, was
aber dem Padrone keine zusätzliche Äußerung entlockte, denn gleichmütig wurde
von ihm der Zettel beiseite geschoben. Es wunderte sie, daß er ihren Namen, unter
dem sie unsäglich litt, ohne Kopfschütteln hinnahm.
Neige, wie konnte man so heißen,
zu welchen Scherzen forderte er heraus, und sie hatte sich längst angewöhnt,
sich schnippisch vorzustellen: »Mein Name ist Neige, alle Witze darüber sind
bereits gemacht!« Und dann der fatale Vorname Blanka, den sie hier in der
italienischen Schweiz sofort in Bianca umwandelte und der damit an die sanfte
Schwester des ruppigen Käthchens von Shakespeare erinnerte. Was sagte man dazu,
Blanka, ein vulgärer Dienstbotenname, den sie ihrem Vater — er war bei Ypern
gefallen und sie konnte sich kaum mehr an ihn erinnern — noch heute übel nahm.
Sie hatte auch keine großen Möglichkeiten gehabt, ihrer Mutter diesbezügliche
Vorwürfe zu machen, weil die Arme, durch die Hungerjahre des Weltkrieges
unterernährt, während der Inflation an der grassierenden spanischen Grippe
gestorben war. Aber die resolute Tante, die daraufhin die Elternstelle bei ihr
vertrat, hatte sie getröstet. Die Witwe des Rendanten des ehemaligen
Hoftheaters, das jetzt zum Hessischen Landestheater geworden war, meinte
großmütig: »Du wirst Künstlerin werre, moi Poppelsche, un kannst dir oin ›nom
de guerre‹ zulegge, des hat ma immer schon gemacht, des ist heut im Freistaat
net anners, als zu inser Großherzogs Zeidde!«
Sollte sie ihren Namen
russifizieren und sich etwa Neigerowa nennen, wie es die Tradition des
russischen Ballettes auch von nichtslawischen Ballerinen erforderte, diese
hassenswerte, verabscheuungswürdige Kunst der Unnatur, die bis 1914 gerade am
Hoftheater besonders sorgsam gepflegt wurde, denn Darmstadt war vor dem Krieg
fast eine russische Garnison gewesen mit seiner hessischen Prinzessin als Zarin
aller Reussen und den vielen fremden Offizieren in Uniform. — »Foine Herre ware
das«, sagte die Tante romantisch verklärt, »Großfürscht war das Mindeste, un
mit Gold un Juwele schmisse die nur so rum, un fürs Ballett hawe die a extras
faible gehawt.« —
Nun, diese Zeit des
gedankenleeren, mechanistischen Balletts war wohl für immer vorbei. Das neue
Hessische Landestheater war eine der modernsten Bühnen Deutschlands geworden,
berühmt im ganzen Land und auch außerhalb der Reichsgrenzen, und hatte sich
statt des Balletts eine moderne Tanzgruppe zugelegt, deren stolzes Mitglied
Bianca-Bianca nun war, mit kleiner Gage allerdings, aber die fortlaufenden
Monatsbezüge gestatteten ihr dank der neugeschaffenen Rentenmark — wie so
vielen Anhängerinnen der reformierten Terpsichore — , in den Theaterferien die
Wallfahrt zum Mekka der neuen Tanzkunst, Ascona, anzutreten.
Sie war nun im kurzen Unterkleid,
das ihre langen braunen Beine freiließ, schlacksige Jungensbeine, die die neue
Zeit als weibliches
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