Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
zurückwarf, sich aufrichten wollte. Dann lieber sehen, wie er zielte, während es noch drei, noch endlose zweieinhalb Meterbis zurück hinter die Kutsche waren. Im letzten Moment aber schloss der Brennersche doch die Augen. Und hörte vor sich einen Knall, und neben sich einen Einschlag im Schnee. Und als er die Augen wieder öffnete, sah er gerade noch, wie der Fremde, das aufbegehrende Pferd mit sich hinabzwingend, wieder in seiner Deckung verschwand.
Als er sich, zitternd und bleich, hinter den Wagen rollte, sah man ihm an, dass er kaum mehr daran geglaubt hatte, diesen Rückweg tatsächlich zu überleben.
Der Schnauzbärtige brauchte, als er wieder Atem gefunden hatte, den fragenden Blick seines älteren Bruders nicht zu beantworten. Das wiedereinsetzende Rufen des vor dem Wagen Liegenden erzählte ausreichend, dass die gefallenen Schüsse keine tödlichen gewesen waren.
Und nun setzte das Schreien mit einer Vehemenz ein, die seine vorherige Inkarnation harmlos erscheinen ließ. War es zuvor das Schreien eines Verwundeten, Verlassenen und Verzweifelten gewesen, war es jetzt das Schreien eines Verratenen. Eines Mannes, dem man im letzten Moment alle verloren geglaubte Hoffnung zurückgegeben hatte – nur, um sie ihm im nächsten Atemzug wieder kaltblütig zu nehmen.
Jetzt waren es Flüche, Verwünschungen – gegen den Fremden, gegen seine Brüder, gegen Gott –, die nur ab und zu zusammenbrachen, um zu einem winselnden, heulenden, brüllenden Flehen zu werden.
Die beiden Brüder kauerten hinter der Kutsche, der Bärtige ließ seinen Hinterkopf immer wieder gegen die Speichen des Rades schlagen, an dem sie lehnten, der andere hielt sich nach einer Weile die Ohren zu. Aber keiner wollte es noch einmal wagen, einen Rettungsversuch zu unternehmen.
Und bald vermieden sie es auch, einander zu oft, zu lang anzusehen. Denn sie bekamen Angst, dass sie im Gesicht desanderen dieselbe verbotene Hoffnung erkennen könnten, die in ihnen selbst keimte: dass das Schreien doch jetzt irgendwann ein natürliches Ende nehmen musste. Und dass sie sich schließlich vielleicht sogar noch würden eingestehen müssen, dass darunter langsam der verdammnisbringende Gedanke eiterte, dass man sonst dem Schreien auch selbst ein Ende setzen konnte.
Dann gab es tatsächlich eine Pause.
Die Vögel, die dem Winter und der Höhe trotzten, waren inzwischen alle aufgewacht. Erst jetzt, als die Stille des Morgens zurückgekehrt war und das Tal rundherum seine Gleichgültigkeit kundgab gegenüber dem Schauspiel, das sich in seiner kalten Mitte abspielte, hörten die Männer ihr Zwitschern.
Es wäre ein schöner Morgen zum Jagen gewesen.
Die Brüder hinter der zusammengesunkenen Kutsche starrten in die Ferne, auf die Bergwände, die ihr Leben umschrieben und einschlossen, solange sie zurückdenken konnten.
Die neu eingetretene Stille beunruhigte sie – auf eine Weise, die sie zuvor nicht gekannt hatten, die aber mindestens ebenso unangenehm war wie der unmittelbare, in die Eingeweide fahrende Schrecken der Schreie. Denn die Stille nahm ihrem Verstand den Fokus, warf ihn auf sich selbst und auf ihre ohnmächtige Untätigkeit zurück.
Dennoch hätte man beim besten Willen nicht behaupten können, dass sie froh waren, als die Schreie wieder einsetzten.
Den Jüngsten hatten offenbar die Sinne verlassen, aber jetzt war er wieder bei Bewusstsein – und kannte nichts Dringlicheres, als sie das wissen zu lassen.
Allerdings hatte zwar nicht die Verzweiflung seiner Rufe, wohl aber ihre Kraft merklich nachgelassen. Und nach einigen langen Minuten setzten sie erneut aus.
Diesmal aber war auch die Spanne kürzer, bis sie ein weiteres Mal anhoben, und für die zum Zuhören verdammten Brüder war dieses neue Warten in Unsicherheit eine Qual, die sie an den Rand des Wahnsinns trieb.
Zwei Mal wiederholte sich das Abreißen und Wiedererwachen.
»Hör auf!« brüllte schließlich der Schnauzbärtige, der es nicht mehr aushielt, »hör auf, hör auf,
hör AUF!
«
In dem Moment krachte ein Schuss, und der Verletzte vor dem Wagen jaulte auf wie ein geprügelter Hund.
Da riss etwas in dem Schnauzbärtigen. Da kam etwas über ihn, das auch den Versuch seines Bruders, ihn aufzuhalten, achtlos wegwischte, das ihn aufspringen ließ, das Gewehr packen und aus der Deckung stürmen.
Der Junge starrte ihn mit brechenden Augen an, den Blick voll unbeantworteter Fragen. Ein zweiter, rasch größer werdender roter Fleck breitete sich auf seiner Flanke aus.
Und
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