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Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Titel: Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Willmann
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abwegige Frage, wann der Fremde denn Zeit gehabt hatte, sich einen Backenbart wachsen zu lassen. Und erst im nächsten Augenblick hatte sein Verstand mit einem Schlag, der ihn durchfuhr, als wäre all sein Blut in diesem Moment durch Eiswasser, im nächsten durch kochendes ersetzt worden, alles gesehen und alles begriffen: den Lederriemen, mit dem die Hände des Reitersan den Sattelknauf gezurrt waren, jene, die die Füße an die Steigbügel banden, und den, der ihm das Tuch zwischen den Zähnen hielt, welches man zusammengeknäult fest in seinen Mund gestopft hatte. Und am schlimmsten: das Gesicht seines Bruders, der im Mantel und Hut des Fremden steckte.
    Der Bärtige wollte aufschreien, aber noch in dem Moment, wo sich der Schrei in seiner Kehle formte, begriff er das Nächste und Wichtigste, und statt eines Rufs der Überraschung, des Zorns, des Schmerzes wurde es zur kürzest möglichen Warnung: »Weg!« brüllte er seine verblüfften Brüder an, fuchtelte ihnen den Blick zugleich auf die wahre Identität der Leiche, die Bedrohung in ihrem Rücken und den Weg zur Flucht, und noch bevor die beiden anderen die Hälfte davon erfassten, hatte er schon sein Gewehr aus dem Sattel des nächststehenden Pferds gerissen und war losgespurtet, durch den hohen Schnee mehr stolpernd, rudernd als rennend, um hinter der Kutsche Schutz zu suchen.
    Als Zweiter verstand der ältere der beiden Schnauzbärtigen – sobald seine Augen entdeckt hatten, wer da vor ihnen auf dem Maultier saß, schnellten sie hoch und zu dem Mann, der auf der gegenüberliegenden Seite des Wegs auf einem Pferd thronte, das ihm nicht gehörte.
    Greider zog den Schal herab, der sein Gesicht fast bis unter die Augen verhüllt hatte.
    Dann spannte er aufreizend langsam, mit einem Klacken, welches das ganze Tal zu füllen schien, den Hahn seines Gewehrs.
    Der jüngste der drei Brüder war der Letzte, der mitbekam, was vor sich ging, und er verstand davon auch nur so viel, dass aus dem vermeintlichen Sieg ein Albtraum geworden war und dass da drüben ein Mann saß, der sein Bruderhätte sein müssen, der aber jetzt auf sie anlegte – und dass keine Zeit war, mehr ergründen zu wollen, sondern dass es nur eins gab: so schnell als möglich in Deckung zu kommen.
    Der ältere Schnauzbärtige hatte zwei Vorteile: zum einen, dass sein einer Bruder schon eine vage Schneise durch den Schnee gepflügt hatte, der er nur zu folgen brauchte, um fürs Erste in Sicherheit zu kommen. Und zum anderen, dass sein jüngerer Bruder als letzter Fliehender ein dankbareres Ziel abgab als er selbst.
    Er war gerade unmittelbar nach dem Bärtigen in Deckung gehechtet, da war der Jüngste noch fünf Meter von der auf eine Deichsel gesackten Kutsche entfernt, kurz davor, deren schützende Rückseite zu erreichen. Da tat es einen Knall, und dem Flüchtenden explodierte das rechte Knie.
    Eine grausige, lange Sekunde hielt er noch das Gleichgewicht, und sein Gesicht bekam einen fragenden Ausdruck, was da so gekracht habe und warum sein Bein, das er doch eben im Laufen nach vorne gesetzt hatte, keinen Halt finden wollte, sondern ihn fallen, fallen, fallen ließ. Dann stürzte er vorwärts in den Schnee.
    Es waren die Schreie ihres jüngsten Bruders, die den beiden anderen schließlich weniger den Mut gaben, hinter ihrer Deckung hervorzulugen, als das Herz raubten, sie noch länger untätig mit anzuhören.
    Hinter dem Wagen waren sie vorläufig gut verbarrikadiert: Sie befanden sich auf jener Längsseite, deren noch intaktes Rad die Kutsche aufbockte, und der Schnee hatte die Greider zugewandte Schräge des gestürzten Gefährts in einen kleinen Wall verwandelt.
    Geistesgegenwärtig hatte der Schnauzbärtige vor seiner Flucht das Gewehr aus der Sattelhalterung des Maultiers gerissen. Es entpuppte sich als das seines toten Bruders, ungeladen– aber sie führten beide in ihren Jacken noch Patronen bei sich, und so hatten sie bald immerhin vier Schuss bereit und konnten nach beiden offenen Seiten hin sichern, sodass der Fremde sie nicht ohne Gegenwehr überrumpeln konnte.
    Aber da war eben das Schreien, Winseln und Betteln ihres Bruders – manchmal einfach unartikuliert im Schmerz, dann wieder voller Unglauben, dass sie ihn da einfach so liegen ließen. Es war das Rufen von einem, dem gerade der Glauben zerbrach an alles, was er für die unumstößliche Ordnung der Welt gehalten hatte.
    Lang ertrugen sie diese Schreie, aber dann schauten sie sich an und wussten, dass es nicht länger ging. Der

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