Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
aufgerollte Leinwand. Diese aber war nicht mehr von frischem Weiß, sondern zeigte eine gelbliche Färbung. Und beim Entrollen wurde auf ihrer inneren Seite ein Gemälde sichtbar.
Es war das Porträt einer Frau. Der dunkle Hintergrund war neutral; was man von ihrem hochgeschlossenen Kleid erkennen konnte, so war es das Gewand einer gut situierten, aber nicht reichen Städterin. Sie war in reifen Jahren, älter möglicherweise als die Witwe Gader, aber ihr Gesicht – umrahmtvon graublondem, nach hinten gebundenem Haar – zeugte davon, dass sie einst Entbehrung gekannt haben musste. Es trug Spuren von frühem Kampf und Enttäuschung, die später erst Ruhe und Zufriedenheit gewichen waren. Letztere leuchteten aus dem Lächeln, das den Falten der Haut im ganzen Antlitz jede Schärfe nahm, sie sprachen aus der milden Güte der Augen. Es war schwer zu sagen, wie viel dieses Leuchtens das Modell verströmt haben musste, und wie viel der Pinsel hinzugedichtet hatte. Denn es war ein Bild, das die ganze Liebe des Künstlers in jedem verklärenden Strich verriet.
Greider breitete das Gemälde behutsam aus, hielt es hoch ins Licht. Er trug es zu dem Spiegel über dem Waschtisch und klemmte es mit dem oben überstehenden Streifen unbemalter Leinwand hinter dessen Rahmen.
Dann verstaute er das Lederfutteral, zog seine Übersachen aus, löschte die Lampe und kletterte ins Bett. Zwei, drei Mal drehte er sich hin und her, bis er auf der unvertrauten Matratze und in den fremden Decken eine bequeme Position gefunden hatte, dann war er eingeschlafen.
Draußen machte sich der Mond nur in einem milchigen Glühen der ihn verdeckenden Wolken bemerkbar, aus denen kleine, harte Schneekörner in das finstere Tal rieselten. Gerade genug Licht kam so herein, dass das Fenster ein kleines Rechteck auf das gemalte Gesicht vor dem Spiegel warf. Alle Spuren des Alters wusch diese schummrige Helle aus dem Porträt. Nur das Lächeln und der Blick blieben erkennbar. Der Blick, der nun auf den Schlafenden gerichtet schien. Aus Augen, deren Blau so tief war wie ihre Güte.
III
Die Erkundungen, die Greider in den ersten ein, zwei Wochen nach seiner Ankunft im Tal anstellte, führten ihn nicht allzu weit weg von dem, was er am ersten Tag bereits kennengelernt hatte. Sein Weg am Morgen, nachdem er bei der Witwe ein einfaches Frühstück genossen hatte, war stets derselbe: Einen Skizzenblock und einen kleinen Holzkasten mit Zeichenutensilien unter dem Arm, spazierte er den Pfad vom Haus der Gaderin zurück ins Dorf, um dort manchen Tag bis Sonnenuntergang zu verbringen. So klein wie das Dorf war, dauerte es nicht lange, bis er all seine ungepflasterten Straßen und Gassen beschritten hatte, bis er jedes seiner Häuser kannte. Doch immer wieder schien er Interessantes dort zu finden, oft verharrte er angesichts eines sich ihm darbietenden Anblicks. Dann ließ er sich irgendwo am Wegesrand nieder, auf einem Stein, einem Holzstapel, holte ein Stück Kohle aus seinem Kästlein und begann, was er sah, mit entschlossenen Strichen auf Papier zu bannen.
Bestimmt zehn Tage lang blieben diese Skizzen leer von Menschen. Sie zeigten Gebäude, ganz und im Detail, fingen Höfe ein und die wenigen reinen Geschäfts- und Wohnhäuser nahe der Dorfmitte. Und auch flüchtig, aber erstaunlich genau und zielstrebig in schwarze Linien gefangene Eindrücke der Landschaft, die den Talkessel säumte und die Behausungen klein und provisorisch erscheinen ließ, konnten jene Neugierigen erhaschen, die sich nah genug heranwagten, um einen Blick über Greiders Schultern zu werfen.
Es war eine behutsame Zeit der Annäherung. Es brauchte nicht viel Scharfsinn, zu erraten, dass Greider seine Wege und Motive planvoll wählte. Dass sie nicht nur der Neugier des Künstlers folgten, sondern vielleicht sogar mehr noch erkorenwaren, der Neugier des Dorfs auf ihn selbst Genüge zu leisten und dabei niemandem etwas anderes zu bieten als ein Bild freundlichster Harmlosigkeit. Zuverlässig erschien er Tag um Tag im Dorf, gab sich zurückhaltend. Er bot sich für jeden zu sehen, er drückte sich nie in Winkel oder suchte versteckte Wege, nie trat er zu nah an fremdes Gut heran. ›Schaut her‹, schien jede seiner Bewegungen zu sagen, ›hier bin ich und scheue keinen Blick; schaut euch satt, ich habe nichts zu verbergen.‹ Seine Skizzen aber waren wie redliche Beweise seiner einst auf dem Dorfplatz gemachten Ankündigungen und seiner lauteren Absichten: Sie zeigten ein ehrliches,
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