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Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Titel: Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Willmann
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niedergelassen,wo zuvor der Wirt gesessen war – allerdings in geziemlichem Abstand. »The name’s Holden«, stellte er sich vor. Mit keiner Miene, keinem Wort ging er darauf ein, in welche Situation er eben eingegriffen, was er eben womöglich verhindert hatte. Sein freundliches Lächeln war das eines Mannes, der sich eben zu einer beschwingten Abendrunde gesellt hatte. Und in eben solchem Tonfall erkundigte er sich nach Reiseziel und -grund der Frau. Die schien nur zu bereit, ebenfalls das gerade Durchlebte zumindest scheinbar ungeschehen zu machen.
    In korrektem, aber gerade dadurch steifem, von einem schwer bestimmbaren Akzent angehauchtem Englisch berichtete sie, dass sie vor dreizehn Jahren schwanger mit dem Schiff aus Europa angekommen sei, sich in einer der Ostküstenstädte niedergelassen und dort ihren Sohn zur Welt gebracht habe. Sie hätte sich, dank der anfänglichen Hilfe entfernter Verwandter, eine bescheidene, aber redliche Existenz aufgebaut – zunächst als Näherin, dann, nachdem sie sich eingelebt und mit viel Fleiß ihre Sprachkenntnisse perfektioniert habe, als Privatlehrerin. Und eben als Lehrerin sei sie nun unterwegs in eine der neuen, aufstrebenden Städte im Westen, wo das Leben zwar wohl noch nicht so kultiviert sei, die eben sesshaft Gewordenen aber einen umso größeren Bedarf an gebildeten Leuten hatten zur Unterrichtung der Kinder. Sie habe auf eine Annonce geantwortet und sei vom Bürgermeister der Stadt zunächst mit Versprechungen auf allerlei Vergünstigungen gelockt worden und einer Wohngelegenheit, gegen die sich das Zimmer, das sie sich bisher leisten konnte, beschämend ausnahm. Außerdem aber sei sie, berichtete sie leicht errötend, auch in Korrespondenz mit einigen Leuten vom zuständigen Bürgerkomitee getreten, und darunter sei ein Herr gewesen, ledig, zu dem sie bald aufgrund seiner einfühlsamen Worte eine besondere Sympathiegefasst habe, welche offenbar auf Gegenseitigkeit beruhte – und die auch durch den postalischen Austausch von Porträtfotografien nicht gelitten habe, im Gegenteil. Und von dieser Sympathie, müsse sie gestehen, würde sie nach ihrer Ankunft in der Stadt tatsächlich noch mehr erwarten.
    Holden hörte mit freundlicher Aufmerksamkeit zu und fragte dann, aus welchem Teil Europas sie denn stamme. Über die Antwort verfiel er sogleich in Begeisterung: »Germany! Wie schön! Ein wenig spreche ich Deutsch.« Und bewies dies gleich, indem er vom Anlass seiner Reise in just dieser Sprache zu erzählen begann.
    Holdens schwarze Kleidung, seine feinen Stoffhosen, der lange Gehrock, das weiße Hemd mit dem Rundkragen und die Schleifenkrawatte, der runde Hut, den er auf der Bank abgelegt hatte, das alles verlieh ihm etwas Priesterhaftes. Doch in Wahrheit war sein Beruf der eines Richters. Und als solcher war auch er auf dem Weg nach Westen, um eine neue Stellung anzutreten. Wo genau, das vermochte er jedoch noch nicht zu sagen. Nein, ein festes Angebot hatte er noch keines. Aber das schien ihn nicht im Geringsten in Sorge um seine Zukunft zu versetzen. Mit einem dröhnenden Lachen verkündete er vielmehr: »Für mich ist überall Werk.«
    Und dann fragte er die Frau, ob er sich für eine Weile ihrer Reise anschließen dürfe, und sie – mehr höflich als begeistert – bejahte.
    Holden hatte mit seinem Erscheinen zum rechten Zeitpunkt eine für sie unangenehme Situation beendet, und er gab sich auch danach ihr gegenüber nie anders als korrekt. Dennoch war er der Frau unheimlich. Unter seiner Höflichkeit meinte sie etwas Mokierendes zu spüren, etwas amüsiert Lauerndes. Und so nahm sie mit gemischten Gefühlen wahr, wie unverzüglich ihr Sohn offenbar von einer blinden Begeisterung fürden Fremden ergriffen wurde. Ja, sie war froh, dass ihm jetzt die Reise auf einmal wieder kurzweilig geworden war. Aber sie beobachtete mit Unwohlsein, dass dieser Mann in ihm ein gar so staunendes, begieriges Publikum fand.
    Holden berichtete von seinen zahlreichen bisherigen Wirkungsstätten, von seinen bizarrsten Fällen, er konnte bei jeder Gelegenheit farbenreiche Parallelen ziehen zu berühmten wie obskuren Ereignissen aus Geschichte und Literatur, als hätte er die selbst miterlebt. Ohne dass man je das Gefühl hatte, er würde sie im Geringsten anheben, drang seine Stimme mühelos über das Schlagen der Hufe, das Rattern und Ächzen der Kutsche auf den unebenen Wegen. Zusammen mit dem unentrinnbaren Blick von Holdens dunklen Augen hatte diese Stimme die Fähigkeit,

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